30.12.2019

Museum

Helen kratzt an Schichten

und das nicht unbedacht: Restaurierung steht hier metaphorisch für die Wiederherstellung von Geschichte. Foto: Abschnitt Cover / S. Fischer
und das nicht unbedacht: Restaurierung steht hier metaphorisch für die Wiederherstellung von Geschichte. Foto: Abschnitt Cover / S. Fischer

Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“ steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019. Ihre Heldin ist eine Buchrestauratorin auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Eine Rezension

An den gekritzelten Buchstaben einer Randnotiz haftet eine Geschichte, die Helen Mazavian sich vorgenommen hat zu entschlüsseln. „Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht.“ Winzig klein stehen diese Worte auf einer der vielen vergilbten Seiten einer alten Bibel. Helen restauriert diese Bibel. Dafür ist sie von Deutschland nach Armenien gereist, in die Hauptstadt Jerewan. Sie wurde eingeladen vom Mesrop-Maschtoz-Institut, um die armenische Bindetechnik zu lernen. Helen ist Buchrestauratorin. Sie sorgt dafür, dass Altes wieder lesbar wird und vergegenwärtigt Verjährtes. Und im Verlauf der Restaurierung auch ihre eigene Geschichte.

In Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“, der 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert war, ist die Heldin eine Suchende, an der Oberfläche zunächst suchend nach neuen Techniken, um Geschichte lesbar zu machen, in der Tiefe schließlich suchend danach, die Geschichte zu verstehen. Helen ist in Russland geboren, kam als junges Mädchen nach Deutschland und weiß nahezu nichts über ihre Wurzeln, außer, dass ihr Großvater Armenier war. „Haben Sie auch manchmal das Gefühl, Frau Gevorgian, die Arbeit an einem Buch ist viel mehr als Papier, Schimmel, Tinte, Leder?“, sagt sie einmal zu ihrer armenischen Mentorin. „Wenn ich am Abend nach Hause gehe, vermisse ich dieses Buch, als wäre es etwas Lebendiges.“ Lebendig wird das Buch in gewissem Sinne tatsächlich. Indem Helen immer weiter daran schabt, leimt, klebt und bindet, erwacht die Fluchtgeschichte zweier Kinder namens Hrant und Anahid unter ihren Händen zum Leben. Katerina Poladjan streut dafür Kapitel einer anderen Zeit in die Ich-Erzählung ihrer Protagonistin. Es ist 1915, die Zeit des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich, den die türkische Regierung bis heute leugnet.Poladjan webt die Vergangenheit als Parallelhandlung ein, es sind Fragmente, die sich schrittweise einfügen in einen Zusammenhang, der aber bis zuletzt nicht erklärt wird. Erwarten, dass sich die beiden Handlungen aus den zwei verschiedenen Zeitebenen verschlingen, sollte man also nicht. Vergangenheit und Gegenwart bleiben in der Schwebe hängende Stränge. Wie Helens Biografie möglicherweise mit dem zu tun hat, was ihr die Bibel und die nachfolgenden Recherchen an versteckten Hinweisen offenbaren, ist so nebulös wie die Frage, ob der Berg Ararat nun türkisches oder armenisches Nationalsymbol ist. Der Ararat spielt im Roman eine nicht ganz unwichtige Rolle, markiert er doch die Grenze zwischen Armenien und der Türkei, die Helen auf der Suche nach ihrer Herkunft überschreiten will.

„Es ging immer um Schutz und Abwehr, daher auch der stabile Einband. In ein fest gepresstes Buch konnten Schädlinge nicht so leicht eindringen. Dieses Volk hatte schon immer Angst zu verschwinden.“ Poladjan hat ihrer Heldin den Beruf der Restauratorin gegeben, und das nicht unbedacht. Die Restaurierung steht hier metaphorisch für die Wiederherstellung von Geschichte, der physisch greifbaren und der psychisch unfassbaren. Die Restaurierung ist die schrittweise Annäherung an etwas, auf dem sich über Jahre hinweg eine dicke Staubschicht abgelagert hat, in diesem Fall: die eigene Herkunft. Nichts anderes macht Poladjans Roman. Mit ihm restauriert die Autorin quasi ein Stückweit ihre persönliche Geschichte, ist sie schließlich selbst wie ihre Heldin in Russland geboren, mit armenischen Ursprüngen verbunden und nach Deutschland ausgewandert. Ihre Heldin Helen kratzt an Schichten, kratzt an der Oberfläche, begibt sich auf eine zweideutige Spurensuche, die sich nicht so leicht fügt wie die knittrigen Löcher sich ihren Händen fügen. Die Leerstelle des Romans mag ernüchtern, genauso wie Poladjans Stil ernüchternd ist, den sie ihrer Heldin in den Mund legt. Wie in Tagebuch-Fetzen schildert Helen ihre Gedanken, und doch bleibt sie seltsam undurchdringlich und unnahbar. Gleichgültig möchte man diese Ich-Erzählerin nennen, dabei ist sie alles andere als das. Leer ist sie, aber sie hat Grund dazu. Die russische Mutter verschleiert ihr ihre Vergangenheit, und selbst als sie sich bemüht, nachzuforschen, woher sie kommt, siegt die Ungewissheit. Wenn wir nicht wissen, wer wir sind, hilft vielleicht immerhin zu wissen, wer wir sein wollen.

Katerina Poladjan, „Hier sind Löwen“, 288 Seiten, 22 Euro

Zur Autorin: Katerina Poladjan wurde in der Sowjetunion geboren und kam Ende der 1970er Jahre kam nach Deutschland. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Berlin absolvierte sie an der Leuphana Universität Lüneburg ein Studium der Angewandten Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Philosophie und Kunst. Ihr Vater Michael Poladjan lebt als ein freier Künstler in Berlin.
Katerina Poladjan schreibt Romane, Theatertexte und Essays. 2011 erschien ihr erster Roman „In einer Nacht, woanders“. Katerina Poladjan war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für „Hier sind Löwen“ erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senatsund von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 

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