Nachdem die Münsterbauhütte Ulm zusammen mit weiteren Bauhütten seit März 2018 zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands zählt, läuft jetzt eine Bewerbung um die Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe. RESTAURO hat Münsterbaumeister Michael Hilbert und sein Team aus Steinmetzen, Steintechnikern und Schreinern besucht. Digitale Tools werden bei ihrer Arbeit ganz selbstverständlich eingesetzt
Als im Oktober 2018 im Chor des Ulmer Münsters einige Putzstücke von der Decke fielen, bestand dringender Handlungsbedarf. Der Chor musste eingerüstet und für längere Zeit für Gottesdienstbesucher und Touristen gesperrt werden. Ein Jahr lang wird der 13 000 Kubikmeter fassende Innenraum komplett ausgefüllt sein, um die Schäden am Deckengewölbe zu beheben. Das Gerüst ist in sich stabil und wird freitragend, also ohne in den Wänden verankert zu sein, aufgestellt. Das schont die historische Bausubstanz. „Erst jetzt, wo wir hier oben überall hinkommen, können wir uns ein detailliertes Bild von den Schäden machen“, sagt Münsterbaumeister Michael Hilbert. Oben auf dem Gerüst offenbart sich das Ausmaß der Schäden: Auf Augenhöhe zeigen sich im ehemals weißen Kalkputz unzählige kleine Risse. Kritisch sind vor allem die Stellen, wo das Gewölbe an die Rippenbögen stößt. Dort hatten sich die beiden Putzstücke gelöst. Der Grund dafür liegt weit zurück: Am 1. März 1945 hatte eine 500 Kilo schwere Sprengbombe das Seitendach des Chorraums durchschlagen und schwere Schäden angerichtet: Ins 35 Zentimeter starke Ziegelgewölbe wurde ein Loch mit rund sechs Metern Durchmesser gerissen; die Rippenbögen in zweiten und dritten Joch stürzten zu Boden, andere wurden beschädigt. Nach dem Krieg wurden die fehlenden, ursprünglich aus Sandstein gefertigten Rippenbögen aus Stahlbeton gegossen. Bei der Reparatur 1946 wurde zudem ein härterer Putz mit hohem Zementanteil verwendet. Die Materialien haben verschiedene physikalische Eigenschaften, wenn sie sich ausdehnen. Das führte im Lauf der Zeit zu Rissen und Lockerungen und die extreme Hitze im letzten Sommer trocknete den Putz aus. In der Folge kam es 2018 zum Absturz der Putzstücke. Jetzt werden die Risse mit Hanf ausgestopft, damit dessen langhaarige Fasern künftig für mehr Halt sorgen. So können sich die unterschiedlichen Materialien bei Temperaturschwankungen ausdehnen, ohne dass es zu Abplatzungen kommt. „Es lässt sich nicht verhindern, dass es wieder Risse gibt“, gibt Hilbert zu Bedenken. „Aber künftig sollen die lockeren Teile oben bleiben.“ Großflächig sichtbar ist auch schon, dass die Restauratoren das Deckengewölbe reinigen: Sie entfernen Staub, Ruß und andere Ablagerungen mit Staubsaugern und Kautschuk- schwämmen.
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1948 war der Chor das letzte Mal eingerüstet. „Seit der Reparatur vor gut 70 Jahren war hier niemand mehr oben“, sagt Hilbert. Die Reinigung lässt auch die farbliche Fassung der Kreuzungspunkte wieder leuchten: in Gold, Ziegelrot und Mintgrün. Doch der meisterhaft gearbeitete spätmittelalterliche Schlussstein mit den drei geflügelten Engeln muss nicht behandelt werden: Er ist in perfektem Zustand bis hin zu den feinen Gesichtszügen und zart geröteten Wangen, die gemeinhin weit entfernt sind und allenfalls mit dem Fernglas bewundert werden können. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, diese feine Bildhauerarbeit aus der Nähe zu betrachten?
Wir versuchen, am Ulmer Münster so viel wie möglich im Originalzustand zu erhalten“, erklärt Michael Hilbert. Er ist seit fast fünf Jahren für die Restaurierung des evangelischen Gotteshauses verantwortlich. Noch heute sind mehr als 50 Prozent der verbauten Außensteine original. Hilbert sagt, das liege an den vergangenen Restaurierungskampagnen, die in den letzten 400 Jahren an der Kirche durchgeführt worden sind. Denn auch während der Baupause vom 16. bis zum 19. Jahrhundert wurden Steine erneuert. Wie viel Originalmaterial es am Ende der laufenden Restaurierung, im Jahr 2022, sein wird, kann Hilbert noch nicht sagen. Alle Schritte werden sorgfältig für kommende Generationen auf säurefreiem Papier dokumentiert und die wichtigsten Pläne sind im Stadtarchiv sicher aufbewahrt. In der Münsterbauhütte arbeitet ein 24-köpfiges Team aus Steinmetzen, Steintechnikern und Schreinern. Für die seit 2015 laufende Restaurierung des Hauptturms lief bereits ab 2006 die Schadensanamnese. Drei unterschiedliche Sandsteinsorten sind hier verbaut worden: Doggersandstein, der aus Isny im Allgäu stammende Molassesandstein und Stubensand- stein, der in Schönbuch bei Stuttgart abgebaut wird. Im Mittelalter wurden die Steine mittels Ochsenkarren über die Schwäbische Alb transportiert. Der stark durch den sauren Regen geschwächte calcitisch gebundene Doggersandstein wird nun durch ferritisch gebundenen ausgetauscht. Dieser eisenhaltige Sandstein hat den Vorteil größerer Dauerhaftigkeit. Bauforscher der Unis Bamberg und Karlsruhe betreuten die Arbeiten. Aber die Restaurierungen schaffen auch neue Probleme: So hat die Schwefelsäure früher den Bewuchs kleingehalten, jetzt muss man dagegen vermehrt Flechten und Moose entfernen. Um festzustellen, welche Materialien in der langen Baugeschichte jeweils wann verwendet wurden, können auch die vielfach noch erhaltenen Hüttenbücher ausgewertet werden, in denen die Steinmetze das Wissen der Vorgänger bewahren.
Welchen Weg durchläuft nun ein Werkstück in der Münsterbauhütte? Anhand eines Steins aus der Giebelbekrönung der Ulmer Valentinskapelle sol- len die einzelnen Schritte veranschaulicht werden. Das Element besteht aus drei stark verwitterten Lilien auf einer Basis. Einige Steine waren von Umwelteinflüssen und Kriegsschäden zu sehr zerstört und mussten ausgetauscht werden. Dieses Stück allerdings konnte zur Hälfte ergänzt und zur Hälfte erneut eingesetzt werden. Ziel der Restauratoren ist es, möglichst viel Originalsubstanz zu erhalten. Richard Géczi, Experte für Steintechnik, ist für das digitale Aufmaß der Steine zuständig. Neu ist die Arbeit mit einem 3D-Handscanner, der das Erfassen der Daten enorm erleichtert und der vor Ort, also auf dem Gerüst eingesetzt werden kann. Ein Werkstück ist so in zwei Minuten aufgemessen. In fünfzig Zentimeter Abstand scannt Géczi das Werkstück ein.
Lesen Sie weiter in der RESTAURO 8/2019.