Der Freistaat Bayern startet ein neues Forschungsprojekt über den Einfluss verschiedener Stoffe auf die Umwelt. Ein Team aus Chemikern und Mikrobiologen der Hochschule Coburg wirkt mit und untersucht Biozide in Baustoffen wie Dämmmaterialien, Putze und Fassadenfarben
Der Mensch liebt es bequem: In unserer wunderbaren Welt soll alles Gebaute ewig halten. – Oder doch zumindest sehr, sehr lange. Es ist zum Beispiel unbequem, Schilder, Zäune und Holzmöbel im Außenbereich öfters zu erneuern. Die Lösung ist häufig die Verwendung biozidhaltiger Baustoffe. Wärmedämmung am Haus ist wichtig für die Energiebilanz. – Um jeden Preis? Witterungsbeständige Materialien sind der Verkaufsrenner. Um jeden Preis? Wind und Wetter sowie Mikroorganismen werden nicht als natürlich angesehen, sondern als Störfaktoren, die mit allen Mitteln an ihrem zerstörerischen Werk gehindert werden müssen. So sollen etwa biozidhaltige Anstriche Boote frei von Muscheln und Algen halten. Ein Problem gelöst und ein weit größeres dadurch erst geschaffen: Die Gefährlichkeit von Bioziden aus Bootsanstrichen ist seit langem bekannt. Die mangelnde Kennzeichnung biozidhaltiger Produkte ist ein weiteres Problem.
Seit kurzem findet allerdings ein Umdenken statt: Wissenschaftler warnen zum Beispiel immer dringlicher vor Gewässerbelastungen durch Fassadenanstriche mit Biozidwirkstoffen. Viele Biozide wirken jedoch mit einem gehörigen zeitlichen Verzögerungseffekt gesundheitsgefährdend auf den Menschen. Auch Wildtiere können unbeabsichtigt Biozide aufnehmen und schwere Vergiftungen erleiden. Der Freistaat Bayern startet nun ein großangelegtes Forschungsprojekt über den Einfluss verschiedener Stoffe auf die Umwelt. Chemiker und Mikrobiologen der Hochschule Coburg untersuchen dabei Biozide in Baustoffen wie Dämmmaterial, Putz und Fassadenfarbe. Pestizide, Herbizide, Fungizide: Die meisten Menschen wissen, dass Landwirte solche Substanzen nutzen, um Ernteschäden zu vermeiden. Weniger bekannt ist, dass oft genau die gleichen Chemikalien bei Hausbau und Renovierung eingesetzt werden – und zwar in großem Stil.
„Etwa ein Viertel der hergestellten Biozide geht in Produkte aus dem Bausektor“, sagt Prof. Dr. Stefan Kalkhof. Sein Kollege Prof. Dr. Matthias Noll ergänzt, dass bisher weitgehend unbekannt ist, welche Folgen die Freisetzung der Wirkstoffe hat. Das ändert sich nun: Die beiden Professoren vom Institut für Bioanalytik der Hochschule Coburg erforschen im Projekt „Bewertung biozidhaltiger Baustoffe“ den Einfluss auf das Boden-Ökosystem. Die Arbeit der Coburger Forscher ist Teil des Projektverbundes BayÖkotox – Ökotoxikologische Bewertung von Stoffen in der Umwelt. Damit will der Freistaat die Umweltforschung vorantreiben und bisher fehlende Datengrundlagen schaffen. Zum Auftakt sagte Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber: „Wir wollen genau wissen: Welche Stoffe haben welche Wirkung auf die Umwelt. Das schafft wichtige Entscheidungsgrundlagen für politisches Handeln zum Schutz der Umwelt.“
Weitere Forschungsinhalte sind neben dem Coburger Thema Bauen auch Verkehr und Insekten. Damit befassen sich Wissenschaftler der Universitäten Bayreuth, Regensburg und Würzburg. Finanziert wird BayÖkotox vom Bayerischen Umweltministerium, koordiniert vom Landesamt für Umwelt. „Dort werden die Daten gesammelt und die Konsortien vernetzt“, erklärt Kalkhof. „Es geht darum, langfristig eine Expertise aufzubauen.“ Noll ergänzt: „Bayern möchte bei der terrestrischen Ökotoxikologie eine Vorreiterrolle einnehmen.“ Das Projekt solle dazu beitragen, dass die Böden weniger belastet werden. Ökotoxikologie untersucht, wie sich chemische Stoffe auf die Umwelt auswirken – von der Ebene winziger Moleküle bis hin zu ganzen Ökosystemen. Kalkhof erklärt, dass es bei Baustoffen für den Innenbereich durch Gesundheits-Auflagen deutlich strengere Regeln gebe als im Außenbau. Chemikalien verhindern im Außenbereich bei Baustoffen wie Dachpappe, Wärmeverbundsystemen, Putz oder Farbanstrichen den Befall mit Schimmel, Bakterien, Algen und Flechten. „Die eingesetzten Biozide landen nicht gleich 1:1 in der Umwelt“, sagt Kalkhof. „Aber“, ergänzt Noll, „damit sie wirken, müssen Biozide dennoch wasserlöslich sein.“
Um herauszufinden, wie sie durch Regen ausgespült werden und was passiert, wenn die Sonne die Fassade erhitzt, nutzen die Forscher einen „Zeitraffer“: In einer Bewitterungskammer werden Proben mit Licht und Wasser so bearbeitet, dass sich hochrechnen lässt, wie die Biozide im Lauf von Jahren freigesetzt werden. In Kalkhofs Team wird Nadine Kiefer die Freisetzung, den Abbau und die Anreicherung im Boden mittels hochsensitiver Analytik genau quantifizieren. Darüber will sie ihre Doktorarbeit schreiben. Bei Professor Noll wird Fabienne Reiß über das Projekt promovieren: Sie untersucht, inwiefern sich die Vielfalt von Mikroorganismen im Boden durch den Biozid-Eintrag aus Baustoffen verändert und ob die Aktivität der Mikroorganismen beeinflusst wird. „Wir sammeln das Ablaufwasser in der Bewitterungskammer, geben es auf Normböden und messen mit modernsten Techniken, was passiert“, erklärt Noll. Anders als bei Gewässern gibt es bei Böden bisher noch kaum Erkenntnisse über die Auswirkung von Bioziden. Die Coburger Forscher erarbeiten jetzt wertvolles Hintergrundwissen – und das kann der Politik in ein paar Jahren als Entscheidungsgrundlage dienen. Auf dieser Grundlage können die langfristigen positiven und negativen Effekte von Bioziden abgewogen werden und (wohl unumgängliche) Alternativen zu Bioziden entwickelt werden.