15.10.2018

Projekte

Migrationsgeschichte digital erlebt

Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven erzählt die Geschichte eines Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg anhand originaler Zeugnisse und mithilfe von Virtual Reality. Noch bis zum 30. November 2018 kann man sich am Ausstellungsexperiment „KRIEGsgefangen. OHNMACHT SEHNSUCHT 1914–1921“ beteiligen – dafür winkt freier Eintritt.

Blick in den ersten Ausstellungsraum. Foto: © Deutsches Auswandererhaus / Andreas Heller
August Schlicht 1901 als Einjähriger- Freiwilliger im Regiment Graf Bose, Altona. Foto: © Sammlung Deutsches Auswandererhaus
Blick in den ersten Ausstellungsraum. Foto: © Deutsches Auswandererhaus / Andreas Heller
Blick in den analogen Ausstellungsraum zu „SEHNSUCHT“. Foto: © Deutsches Auswandererhaus / Manuel Krane
Tony, August und Hildegard Schlicht mit Freunden am Stand in Dahme, 1911. Foto: © Sammlung Deutsches Auswandererhaus
Tony, Hildegard und August Schlicht, um 1912. Foto: © Sammlung Deutsches Auswandererhaus
Nach seiner Rückkehr verfasste August Schlicht ein Journal, in welchem er von seiner Kriegsgefangenschaft berichtet. Foto: © Deutsches Auswandererhaus / Andreas Heller
Blick in einen der VR-Räume. Foto: © Deutsches Auswandererhaus / Andreas Heller

Für August Schlicht, einen Hamburger „Zahnkünstler“ (nichtapprobierter Heilbehandler), hat der Erste Weltkrieg besonders lange gedauert. Kurz nach Kriegsausbruch 1914 gerät der damals 33-Jährige in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1921 freikommt. Fast sieben Jahre getrennt von der Familie, dem harten sibirischen Klima, dem Hunger und der materiellen Not ausgeliefert und unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Seine aus den Lagern überlieferten Briefe an seine Frau im fernen Hamburg sind ein wertvoller Schatz, in denen die Auswirkungen der Kriegsgefangenschaft – in der neueren historischen Forschung ein Aspekt der Zwangsmigration – nachfühlbar werden.

Mehrere Monate gehen ins Land, zwei harte Winter, bis August Schlicht endlich seine neue Mütze hat. Seine flehentlichen Bitten an seine Frau sind in Briefen genauso überliefert, wie sein nachvollziehbarer Frust, als die Mütze dann endlich ankommt – in einem beschädigten Paket, in einer übelriechenden Melange von Erdbeermarmelade und eingelegten Sprotten. Es bleibt im Gedächtnis, was die geschulte Stimme unter der VR-Brille vorliest. Die künstlerisch verfremdeten Bilder der sibirischen Steppe, die im 360°-Kreis betrachtet werden kann, lenken die Aufmerksamkeit kaum ab. Ohnmächtig fühlt man sich, immer schneller ziehen die Wochen ins Land, immer weitere Briefe zeugen von der gebrochenen Hoffnung des Protagonisten – dabei ist es doch nur eine Ausstellung und der helfende Guide nur eine Armlänge entfernt.

Virtual Reality ist nichts für schwache Nerven, eine winzige Kopfdrehung ist entscheidend und kann einem – trotz oder wegen der künstlerischen Abstraktion des Dargestellten – das Gefühl geben, im scheinbar unendlichen Raum verloren zu sein. Gut, dass die helfenden Kommentare des Museumspädagogen, gleich verbalen Rettungsankern, einen jederzeit zurück ins „Hier und Jetzt“ holen. Der personelle Aufwand ist hoch, ein Museumsmitarbeiter kann höchstens zwei Besucher gleichzeitig betreuen. Und doch ist es ein lohnendes Experiment, mit dem Wissenschaftler des Deutschen Auswandererhauses untersuchen, wie die Art der musealen Vermittlung das Verständnis beim Besucher für schwer Vermittelbares, also für Erfahrungen und Gefühle anderer Menschen, beeinflusst.

Zwei emotionale Aspekte, Sehnsucht und Ohnmacht, werden wahlweise klassisch-objektbezogen oder virtuell-verfremdet, dargestellt. Was bleibt emotionaler (und damit stärker) im Gedächtnis haften – die sorgsam im Lederetui verwahrte Haarlocke der kleinen Tochter oder die aus Briefen vorgetragene sehnsüchtige Erinnerung an den letzten Urlaub? Interviews, die vor und nach dem Ausstellungsbesuch mit den Besuchern geführt werden, werden bis April 2019 ausgewertet. Manuel Krane ist schon jetzt überzeugt, dass der Besuch virtueller Räume helfen kann, das Thema Migration erfahrbar zu machen.

Mit seinem Ausstellungsexperiment „KRIEGsgefangen. OHNMACHT SEHNSUCHT 1914–1921“ beteiligt sich das Auswandererhaus an einem bundesweiten Projekt. „museum4punkt0 – Digitale Strategien für das Museum der Zukunft“ heißt die Studie, die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wird. Mit Hilfe digitaler Prototypen, die in den jeweiligen musealen Infrastrukturen erprobt werden, sollen bis 2020 innovative Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technologien entwickelt werden. Dabei werden Fragen der Rezeptionsforschung in Museen beantwortet und Anforderungen an interne Infrastrukturen und „Workflows“ analysiert. Während man sich in Bremerhaven mit „Migrationsgeschichte digital erlebt“ auseinandersetzt, forscht man beispielweise an den Staatlichen Museen zu Berlin an digitalen Erweiterung des Museumsbesuches („visitor journeys neu gedacht“) oder setzt in den Museen der Schwäbisch-Alemannischen Fastnacht den Fokus auf die digitale Erlebbarkeit des Kulturgutes Fastnacht.

Doch nicht alles in Bremerhaven ist digital und das ist auch gut so. Mit klassischen historischen Objekten wird ein Wohnzimmer aus der Zeit des Ersten Weltkrieges inszeniert, samt dem Staub der Jahrzehnte, effektvoll gewonnen aus feinster Heilerde. Im Wohnzimmer werden nicht nur historische Hintergrundinformationen vermittelt, hier erhält der Besucher auch Eindrücke aus dem bürgerlichen Leben des Protagonisten August Schlicht als Ehemann, Familienvater und Zahnkünstler. Eine kleine, aber wohldurchdachte Mischung, beinahe heilsam nach dem Besuch der virtuellen Unendlichkeit.

Noch bis Ende November 2018 ist das Ausstellungsexperiment „KRIEGsgefangen. OHNMACHT SEHNSUCHT 1914–1921“ erlebbar, jeweils dienstags bis freitags und sonntags von 14 bis 16 Uhr – allerdings ohne Studie. Wer nach vorheriger Anmeldung an der separaten Studie teilnehmen möchte, wird mit freiem Eintritt ins Auswandererhaus belohnt. Für junge Menschen ab 13 Jahren ist der Eintritt in die virtuelle Welt nur in Begleitung Erwachsener möglich. Jüngeren Kindern und allen Menschen, denen der scheinbar unendliche Raum nicht geheuer ist, steht die klassische Ausstellung uneingeschränkt offen.

Mehr Infos unter: http://dah-bremerhaven.de/ausstellungsexperiment/

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