08.08.2017

Museum

Geschichte – unterirdisch gut!

Wissen Sie was ein Hipsterschreck ist? Die Antwort gibt das Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim. Seit Mitte Mai präsentiert sich dort die Archäologie-Abteilung als letzte Museumseinheit nach einer Neukonzeption der Dauerausstellung der Öffentlichkeit. Das Ergebnis zeigt sehr viel Liebe zum Detail, prähistorische Objekte mit modernen, witzigen Bezügen und überhaupt eine Ausstellung zum Anfassen.

Partizipativ und augenzwinkernd: Bürgerinnen und Bürger holten sich die Kampagnenmotive in die Vorgärten. Foto: Stadt- und Industriemuseum
Spuren und Indizien: Spielstation zur Interpretation von Grabfunden. Foto: Stadt- und Industriemuseum
Schmuck und Kleidung der Eisenzeit, bunter als man erwartet. Foto: Stadt- und Industriemuseum/Frank Möllenberg
Einblick in das Neolithische Paket, Haus- und Feldbau inklusive. Foto: Stadt- und Industriemuseum
Eintauchen aus der Gegenwart: Schattenrisse und Statistiken schlagen Brücken in die Frühgeschichte. Foto: Stadt- und Industriemuseum/Frank Möllenberg

Ein neues Konzept für die Dauerausstellung

Den ältesten Grabungsfunden aus der Sammlung eine passende Bühne zu bereiten, ist nicht ganz einfach. Archäologische Objekte sind oft anfällig und zerbrechlich, kostspielig restauriert oder fordern klimatischen Schutz. Meist sind sie nicht selbsterklärend, fragmentarisch und scheinbar unserer Alltagswelt entrückt. Sie lassen nicht ohne weiteres den Funken überspringen – insbesondere, wenn es sich nicht um Edelmetall oder anderen Prunk handelt, wie sie in den Beständen des Rüsselsheimer Stadt- und Industriemuseums eben nicht vorkommen.

Seit 2010 hat das Team des Museums weite Teile der Dauerausstellung neu konzipiert, als letzte Abteilung eröffnete die „Raumzeit. Archäologische Spuren in der Mainspitze“ im Mai 2017. Schon die Werbekampagne zur Eröffnung griff auf etwas andere Weise in den öffentlichen Raum und die Gegenwart aus: Neben den üblichen Werbeträgern wurden Institutionen und Privatleute eingebunden, indem sie Gartenstecker mit den Kampagnenmotiven in ihren Vorgärten platzieren konnten. Eingedenk der Tatsache, dass die Objekte „das“ Medium der Ausstellung sind, zeigten die Plakate etwa eine Stierfigur, kombiniert mit dem Slogan „Sumpfkuh“. Hinter dem durch Irritation Aufmerksamkeit weckenden Spruch steckt, dass es sich möglicherweise um eine als Opfer in einem Moor abgelegte alemannische Tierskulptur handelt – eine der Geschichten, die im Museum zu entdecken sind. Hinter dem „Dachschaden“ hingegen verbirgt sich ein Legionärshelm, der deutliche Kampfspuren aufweist.

Alte Objekte, moderner Bezug

Das Prinzip der Aktualisierung wurde auch für die Eingangsszene genutzt. Schattenrisse, für die heutige Rüsselsheimerinnen und Rüsselsheimer Modell standen, eröffnen Aspekte menschlichen Lebens, die sich in Vorgeschichte und Antike finden. So erzählen selbst Steinchen und Scherben vom Bauen, Shoppen oder Entwickeln und geben erste Antwort auf die Frage „Was hat das denn mit mir zu tun?“ Auch an anderen Stellen werden – durchaus augenzwinkernd – Objekte mit unserer Alltagswelt in Bezug gesetzt. So findet sich neben dem Faustkeil eines Neandertalers ein weiteres Multitool: Ein Taschenmesser mit Werkzeugen aus Stein und Bein. Römische Funde des kleinen, alltäglichen Luxuskonsums werden nicht per Objektschild beschriftet; vielmehr finden sich die Beschreibungen im Homeshopping-Katalog „Imperium Meum“. Dort lässt sich etwa nachlesen, dass das Fragment eines Spielzeughündchens aus garantiert „sabberfester“ Terrakotta besteht – eine Information, die auch bei Nichtrestaurierenden auf Interesse stößt.

Parallel zu den exemplarisch an jeweils einer Epoche aufgezeigten menschlichen Grundkonstanten, wie dem Aspekt „Bauen“ im Neolithikum, zieht sich als zweiter Erzählstrang eine auf den regionalen Raum bezogene Umweltgeschichte entlang der Außenwände. Gezeichnete Landschaftsrekonstruktionen veranschaulichen die Struktur der Landschaft, etwa trockene Steppe zur Eiszeit oder die Wälder der Jungsteinzeit und zeigen so den Wandel der Natur über Jahrtausende. Welche Pflanzen dort wuchsen und welche Tiere es zu jagen gab, kann zum Beispiel an Pflanzenpräparaten oder Objekten wie einem Mammutkiefer entdeckt werden.

Ein zunächst unscheinbar wirkender Fund aus Steinsplittern erzählt, wie sich die Menschen der Umwelt anpassten. Diese Objekte vom bedeutenden Ausgrabungsplatz „Rüsselsheim 122“ sind Steinklingen, mit denen in der ausgehenden Altsteinzeit u.a. erstmals Pfeile bewehrt wurden. „Wald macht erfinderisch“ heißt es an dieser Station. Eine verständliche und ansprechende Präsentation in Form eines Pfeilhagels, bei dem die Klingen auf abgehängten Schäften aus Acryl aufgebracht wurden, entstand nach ausgiebiger Diskussion zwischen Restauratorin, Gestaltungsbüro und Kuratorinnen. Es galt eine für alle Seiten verantwortbare Balance zwischen dem Schutz der Objekte und erkenntnisunterstützender Präsentation zu finden.

Objekte richtig interpretieren

Zu Archäologen – zumindest was die Arbeit der Interpretation der Originalfunde angeht – werden die Besucherinnen und Besucher an der interaktiven Ausstellungseinheit zu Grabfunden. In sieben Asservatenvitrinen finden sich Objekte aus jeweils einem Grabkomplex. Mittels eines Touchmonitors, auf dem Interpretationsansätze aufgezeigt werden, versuchen die Gäste durch Auseinandersetzung mit den Exponaten die richtigen Alternativen zu wählen. Ehrlicherweise benennt das Spiel auch, wo die Wissenschaft an die Grenzen des Interpretierbaren stößt.

So zeigt die Ausstellung, etwa anhand der erwähnten „Sumpfkuh“, dass eine sachgerechte Behandlung der Funde durch Archäologie und Restaurierung unerlässlich ist, wenn möglichst viele Informationen erhalten werden sollen. Bei der Stierfigur ging vieles verloren: Raubgräber hatten sie ihrem Kontext entrissen.

Neben der Ausstellung präsentiert auch der soeben erschiene Katalog „Zum Ort durch Zeit und Raum“, erschienen im Verlag Schnell & Steiner und für 19,95€ im Buchhandel erhältlich, archäologische Objekte von der Frühgeschichte bis in die Frühe Neuzeit.

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