Im Rahmen der Vorbereitungen der Ausstellung »1929/1955« über die Anfänge der documenta wurden zwei Kunstwerke des Zentrum für verfolgte Künste, Solingen, am Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft (CICS) der Technischen Hochschule Köln kunsttechnologisch untersucht

Eines dieser Gemälde ist die »Rue triste (Trostlose Straße)« von Felix Nussbaum, das bisher auf das Jahr 1928 datiert wurde. Anlass für die kunsttechnologische Untersuchung geben lang gehegte Vermutungen zum Entstehungszusammenhang und zur Datierung des Werkes. Bereits mit bloßem Auge sind am Bildrand tieferliegende Farbschichten eines früheren Gemäldes Nussbaums zu erkennen. Mittels Röntgen- und Infrarotstrahlen wurde diese Vermutung bestätigt und weitere Erkenntnisse über die Werkgenese gewonnen, die eine Umdatierung des Gemäldes fordern, das Mitte 1942 vom im Exil lebenden Felix Nussbaum in einem Depot in der Brüsseler Avenue Brugman bei seinem Arzt Dr. Grosfils versteckt wurde. Ende der 1960er Jahre wird es von Auguste Moses-Nussbaum, der Cousine des Künstlers, wiederentdeckt und von der Erbengemeinschaft über die Galerie Hasenclever Mitte der 1970er Jahre an den Autoren und Journalisten Jürgen Serke verkauft. Seit 2008 wird es als Dauerleihgabe im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen präsentiert.
Kunsttechnologische Untersuchungen geben jetzt Aufschluss um die Entstehung des Gemäldes
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Das Apokalyptische der beiden Zeichnungen ist offensichtlich. Die Umgebung der Menschen ist eine Ruinenlandschaft. Sonne und Mond erscheinen gleichzeitig am Himmel. Aber ganz anders als in den Zeichnungen und Ölbildern aus den Jahren vor 1938 interagieren in diesen Zeichnungen und auch in dem übermalten Ölbild Menschengruppen miteinander. Die beiden Figuren am linken unteren Bildrand nehmen Kontakt mit den Betrachtenden auf. Die Figuren in der Bildmitte zeigen Trauer, Verlust aber auch Anteilnahme. Die Menschen im Torbogen auf der linken Seite sind stumme Beobachter. Ähnlich wie in seinen Historienbildern der Jahre 1942 und 1943 versucht er hier, seine Lebenswirklichkeit metaphorisch zu beschreiben und das ist nicht der Beginn des Zweiten Weltkriegs, sondern es sind die Pogrome am 9. November 1938 im Deutschen Reich.
Die Pogromnacht war für Felix Nussbaum ein tiefer Einschnitt. Er nennt sie in einem Brief ein »Teufelsbad«. Zum einen wird jetzt der jahrelange Terror und die Verfolgung der Juden in Deutschland auf die Straße getragen und zum anderen verlassen die letzten Familienmitglieder die alte Heimat. 1937 hatte Nussbaum versucht, die Eltern nach Belgien zu holen. Jetzt fliehen Philipp und Rahel Nussbaum unmittelbar nach der Pogromnacht von Köln nach Amsterdam. Nach dem erzwungenen Verkauf der Firma Gossels & Nussbaum in Osnabrück im Frühjahr 1933 ist diese erneute Flucht der Eltern ein vorläufiger Höhepunkt der Verfolgung und Erniedrigung.
Die »Rue triste« ähnelt städtebaulich der Osnabrücker Johannisstraße, der Straße seiner Kindheit und Jugend. Unweit der großen gotischen Johanniskirche befand sich in der Schlossstraße das Elternhaus und in unmittelbarer Nachbarschaft, in der Seminarstraße, lag der Hauptsitz der väterlichen Firma. Wäre es nicht möglich, in der »Rue triste« eine schmerzhafte Erinnerung an die Geburtsstadt zu sehen? Er übermalt ein Weltuntergangsszenario zur Pogromnacht mit einem schnellen Pinselstrich im Dezember 1938 für seine Brüsseler Ausstellung im Februar 1939 und wird – ausgelöst durch die Nachrichten über den Terror, den die Eltern in Köln erleben mussten – persönlicher. Wahrscheinlich war der Auslöser für die beiden Zeichnungen und das übermalte Ölbild die Berichte über die brennenden Synagogen und der öffentliche Mord an den deutschen Juden. Die Nachrichten von der endgültigen Vertreibung seiner Familie veranlassten ihn, seine Bildidee radikal zu verwerfen. In diesem historischen Moment übermalt Felix Nussbaum die Apokalypse und rechnet mit seiner Geburtsstadt, mit Deutschland, ab und hält in seinem Bild einen menschenleeren, toten, tristen Ort der Vergangenheit fest. Das Bild »Rue Triste« und die Forschungsergebnisse werden in der aktuellen Ausstellung »1929/1955« des Zentrums für verfolgte Künste gezeigt.
Das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen ist ein Entdeckungsmuseum und widmet sich ausschließlich Künstler:innen deren Entfaltungsmöglichkeiten und Werke durch die Diktaturen des letzten Jahrhunderts und totalitäre Regime bis in die Gegenwart hinein blockiert, verhindert oder vernichtet wurden. Es ist ein gattungsübergreifendes Museum und erzählt in seiner Kunst- und Literatursammlung von verschollenen, verlorenen, kaum berücksichtigten Kunstwerken, Geschichten und Schicksalen.
Der 9. November ist ein prägendes Datum in der deutschen Geschichte. Es ist nicht nur der Tag, an dem 1989 die Mauer fiel. Im Jahr 1938 zertrümmerten bei den Novemberpogromen SA– und SS-Schlägertrupps jüdische Geschäfte, mehr als 1.400 Synagogen wurden zerstört, viele Menschen verloren ihr Leben. Die Novemberpogrome bildeten einen Wendepunkt in der nationalsozialistischen Judenverfolgung, der schließlich in den Holocaust mündete.