Der Internationale Tag der Provenienzforschung findet seit 2019 statt. Seitdem wird an jedem zweiten Mittwoch im April von Kultureinrichtungen über ihre laufenden Projekte im Bereich der Provenienzforschung berichtet. Prof. Dr. Gilbert Lupfer, Vorstand des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste erzählt im Interview wie sich die Arbeit des Zentrums verändert hat, welche politischen Maßnahmen ergriffen werden sollten und wie man Privatpersonen in die Provenienzforschung einbinden kann.

Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste besteht nun seit rund zehn Jahren. Wie hat sich die Arbeit des Zentrums in dieser Zeit verändert?
Das Zentrum hat sich in den Jahren seines Bestehens personell, aber auch inhaltlich stark erweitert. Gleichzeitig ist die Zahl der Anträge und mit ihr auch die Fördersumme gestiegen. In den vergangenen zehn Jahren konnte die Stiftung insgesamt mehr als 400 Projekte zur Provenienzforschung mit einer Gesamtfördersumme von mehr als 60 Millionen Euro unterstützen. Das Spektrum der Projekte hat sich dabei im Lauf der Jahre stark ausdifferenziert. Inzwischen können wir zum Beispiel kleineren Museen, die aus eigenen Mitteln keine Provenienzforschung betreiben können, die Möglichkeit zu einem so genannten Erstcheck ihrer Bestände anbieten, um den Forschungsbedarf zu eruieren. Projekte zur Provenienzforschung werden heute längst nicht mehr nur in Kunstmuseen, sondern auch in technischen, naturkundlichen, archäologischen oder ethnologischen Sammlungen, nicht nur in Museen, sondern auch in Universitäten, Bibliotheken oder bei privaten Trägern durchgeführt. Seit 2017 kann das Zentrum Grundlagenforschung zu SBZ und DDR fördern, 2019 kam der Fachbereich „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ hinzu.
Inwiefern beeinflussen aktuelle politische Debatten über Restitution und Provenienzforschung Ihre Arbeit?
Der zuletzt genannte Fachbereich „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich in der Arbeit des Zentrums in gewisser Weise die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit widerspiegelt. Während die Aufarbeitung des Holocaust in der Erinnerungskultur eine zentrale Rolle spielt, ist die deutsche Kolonialzeit erst vor einigen Jahren ins Bewusstsein gerückt. Das hat unter anderem mit der Diskussion um den Bau des Humboldt Forums und die Präsentation der Ethnologischen Sammlungen in Berlin zu tun, aber auch mit einer stärkeren Sensibilität für Rassismus und Kolonialismus allgemein. Im Jahr 2018 hat man sich im Koalitionsvertrag zur Aufarbeitung der Kolonialzeit bekannt und 2019 konnte der Fachbereich „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ am Zentrum mit seiner Förderlinie die Arbeit aufnehmen.
Welche Maßnahmen sollten von der Politik ergriffen werden, um die Provenienzforschung zu stärken?
Das Wichtigste für die Provenienzforschung ist eine stabile finanzielle Förderung und eine ausreichende politische Rückendeckung. Provenienzforscher:innen haben es mit lang zurückliegenden, teils schlecht oder gar nicht dokumentierten Lebensläufen und Objektgeschichten zu tun. Es kann oft Jahre dauern, bis man ein Ergebnis hat, das vielleicht eine Restitution ermöglicht – deshalb ist die personelle Kontinuität ein ganz wichtiger Faktor, damit das Wissen über Bestände nicht wieder verloren geht. Provenienzforschung braucht die politische Unterstützung also nicht zuletzt in Form einer verlässlichen Finanzierung durch den Bund, aber auch durch die Länder und Kommunen als Träger ihrer Einrichtungen. Gerade im Hinblick auf Restitutionen zählt der politische Wille: Denn ob ein Objekt an die Eigentümer:innen zurückgegeben wird, darüber entscheiden nicht die Institutionen, sondern deren Träger in Gestalt von Landesregierungen oder Kommunen. Das ehrliche Bekenntnis zur Aufarbeitung muss da sein, sonst läuft Provenienzforschung ins Leere.
Sollte die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Restitution und Provenienzforschung gestärkt werden? Wenn ja, wie?
Natürlich muss immer wieder für diese Themen sensibilisiert werden – gerade jetzt, da der rechte politische Rand erstarkt und rechtsextreme Ideologen aktiv versuchen, die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Kolonialismus zurückzudrängen. Provenienzforschung dagegen hält das Gedenken an das Menschheitsverbrechen des Holocaust wach. Sie rekonstruiert minutiös die Mechanismen von Diskriminierung, Entrechtung, Enteignung und Vernichtung und wirkt damit dem Vergessen und Verdrängen entgegen. Das gilt auch für die Kolonialzeit, deren Aufarbeitung vor einigen Jahren erst angefangen hat. Hier ist in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Herkunftsgesellschaften noch viel an Aufklärung und Arbeit zu leisten. Für die DDR steht eine breitere gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung noch aus.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Museen, Bibliotheken und Archiven bei der Identifikation und Rückgabe von NS-Raubgut? Wo sehen Sie Defizite aber auch Fortschritte?
Die Provenienzforschung zu NS-Raubgut hat sich in den vergangenen zehn Jahren etabliert und ist in ganz unterschiedlichen Sammlungen angekommen. Das Zentrum hat in diesem Bereich bereits 300 Projekte in Deutschland gefördert, und das Antragsaufkommen nimmt eher noch zu. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, auch wenn noch viel zu tun bleibt. Defizite sehen wir bei den privaten Sammlungen, da private Besitzer nicht an die Einhaltung der „Washingtoner Prinzipien“ gebunden und daher auch nicht verpflichtet sind, Provenienzforschung an ihren Beständen zu betreiben.
Das Thema Raubkunst aus kolonialen Kontexten rückt immer mehr in den Fokus. Welche konkreten Fortschritte gibt es bei der systematischen Erforschung kolonialer Erwerbungskontexte? Gibt es eine vergleichbare Strategie wie bei NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut?
Auch im Bereich koloniale Kontexte erweitert sich das Spektrum, in dem Provenienzforschung geleistet wird: Inzwischen stellen auch hier kleinere Museen Anträge, und es werden spezielle Themen wie christliche Missionssammlungen in den Fokus genommen. Großes Interesse besteht an der Erforschung der Herkunft von menschlichen Überresten, in diesem Bereich fördern wir etliche Projekte. Hintergrund ist, dass die Kolonialherren in den besetzten Gebieten Schädel und Gebeine geraubt hatten, um damit „Rasseforschung“ zu betreiben und die Überlegenheit der weißen „Rasse“ zu beweisen – die Zeugen dieser entsetzlichen Praxis sind noch heute in deutschen Sammlungen und Archiven zu finden, und es ist ethisch dringend geboten, ihrer Herkunft nachzugehen. In seiner fünfjährigen Geschichte konnte der zuständige Fachbereich insgesamt bisher 85 Projekte auf den Weg bringen – das ist eine stolze Bilanz, wenn man bedenkt, wieviel Grundlagen- und manchmal auch Überzeugungsarbeit hier noch zu leisten war, während die NS-Forschung schon sehr viel länger auf etablierten Strukturen aufbauen kann. Die Provenienzforschung in beiden Bereichen steht also an unterschiedlichen Punkten in ihrer Entwicklung und hat es methodisch mit unterschiedlichen historischen Bedingungen zu tun.
Welche Maßnahmen wären notwendig, um kleinere Museen und Privatsammlungen stärker in die Provenienzforschung einzubinden?
Das ist zu trennen: Bei kleineren Museen sind wir, wie gesagt, bereits recht erfolgreich mit Angeboten wie den Erstchecks. Privatsammler:innen können nicht zur Erfüllung der „Washingtoner Prinzipien“ verpflichtet werden. Von Ausnahmen wie der Familie von Schirach oder dem Haus Hessen abgesehen, haben wir leider kaum private Antragsteller, die ihre Sammlung untersuchen möchten. Ohne einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen bleibt es hier bei moralischen Appellen.