20.10.2025

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Shifting the Silence. Die Stille verschieben

Malgorzata Mirga-Tas, Out of Egypt (Series), Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich © Małgorzata Mirga-Tas, Foto/Photo: Marek Gardulski
Malgorzata Mirga-Tas, Out of Egypt (Series), Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich © Małgorzata Mirga-Tas, Foto/Photo: Marek Gardulski

Am 14. Oktober 2025 eröffnete das Lenbachhaus in München die Ausstellung „Shifting the Silence. Die Stille verschieben“, eine umfassende Schau zeitgenössischer Kunst, die sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Sprache, Wahrnehmung und künstlerischem Ausdruck auseinandersetzt. Kuratiert von Eva Huttenlauch und Matthias Mühling, nimmt die Ausstellung ihren Ausgangspunkt in Etel Adnans gleichnamigem Buch „Shifting the Silence“ (2021), dessen deutsche Übersetzung „Die Stille verschieben“ 2022 posthum erschien.


Ein poetischer Ausgangspunkt: Etel Adnan und das Nachdenken über das Leben

Etel Adnan, Schriftstellerin, Philosophin und Malerin, schrieb „Shifting the Silence“ erkennbar am Ende ihres Lebens. In diesem Werk reflektiert sie in kurzen, prosaischen Texten über die großen Themen menschlicher Existenz – über Zeit, Erinnerung, Vergänglichkeit und die Schönheit des Daseins. Ihre Beobachtungen des Alltags, persönliche Anekdoten und poetischen Gedanken verdichten sich zu einer vielstimmigen Erzählung ohne lineare Struktur. Diese literarische Form lässt sich auch als künstlerische Haltung lesen: Etel Adnan sucht nicht nach endgültigen Antworten, sondern nach Ausdrucksformen, die den Moment des Erlebens erfahrbar machen. Die bewusste Unvollständigkeit ihrer Texte lädt dazu ein, über das Unsagbare, über die Grenzen von Sprache und Wahrnehmung nachzudenken. Ein Raum der Ausstellung im Lenbachhaus ist daher Adnans Gemälden gewidmet. Hier wird ihre doppelte künstlerische Identität sichtbar – als Malerin, deren Denken aus dem Schreiben hervorgegangen ist. Ihre Farbflächen und abstrakten Kompositionen spiegeln die gleiche meditative Tiefe wider, die ihre Texte prägt.


Das Konzept der Ausstellung: Sprache, Kunst und das Unsagbare

Das zentrale Anliegen von „Shifting the Silence“ besteht darin, die Herausforderung der Versprachlichung von Kunstzu thematisieren. Wie lassen sich ästhetische Erfahrungen, visuelle Eindrücke und sinnliche Wahrnehmungen in Worte fassen, ohne ihren Eigenwert zu verlieren? Sprache ist einerseits ein Mittel der Verständigung, andererseits aber auch begrenzt. Sie stößt dort an ihre Grenzen, wo das Erleben vielschichtiger und subjektiver wird. Das Lenbachhaus greift diesen Gedanken auf und versteht die Ausstellung als ein Experimentierfeld, in dem Kunst und Sprache, Bild und Text, Gefühl und Denken in einen offenen Dialog treten. Etel Adnan schlug vor, die „Stille zu verschieben“ – also die Grenzen des Sagbaren zu erweitern. Dieses poetische Prinzip wird in der Ausstellung zum Leitmotiv: Die Kunstwerke sollen nicht erklärt oder reduziert, sondern in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen werden. „Shifting the Silence“ steht damit auch für einen Aufruf, die vielfältigen Ausdrucksformen der Gegenwartskunst nicht zu rationalisieren, sondern sie als gleichwertige Formen des Denkens und Fühlens zu begreifen.

Rosemary Mayer, Hypsipyle, 1973, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich © The Estate of Rosemary Mayer, New York, Foto/Photo: Lukas Schramm, Lenbachhaus
Rosemary Mayer, Hypsipyle, 1973, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich © The Estate of Rosemary Mayer, New York, Foto/Photo: Lukas Schramm, Lenbachhaus

Eine internationale Auswahl zeitgenössischer Kunst

Die Ausstellung vereint Werke von mehr als 40 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die unterschiedliche Perspektiven auf Wahrnehmung, Sprache und Erinnerung eröffnen. Zu den vertretenen Positionen gehören:
Etel Adnan, Saâdane Afif, Nevin Aladağ, Harold Ancart, Tolia Astakhishvili, Leilah Babirye, Cana Bilir-Meier, Mel Bochner, Thea Djordjadze, Simone Fattal, Amy Feldman, Dan Flavin, Isa Genzken, Adrian Ghenie, Zvi Goldstein, Sheela Gowda, Giorgio Griffa, Philipp Gufler, Samia Halaby, Candida Höfer, Jenny Holzer, KAYA, Alexander Kluge, Jiří Kovanda, Goshka Macuga, Nick Mauss, Rosemary Mayer, Małgorzata Mirga-Tas, Roméo Mivekannin, Matt Mullican, Marcel Odenbach, Roman Ondak, Anri Sala, Curtis Talwst Santiago, Spomenko Škrbić, Sung Tieu, Gülbin Ünlü, Nicole Wermers und Issy Wood.
Die Vielfalt dieser Künstlerinnen und Künstler spiegelt die Offenheit des Ausstellungskonzepts wider. Unterschiedliche Medien, Materialien und künstlerische Strategien treten in einen Dialog – von Malerei und Skulptur über Fotografie und Installation bis hin zu konzeptuellen und sprachbasierten Arbeiten.


Kunst als Sprache – Sprache als Kunst

„Shifting the Silence“ versteht sich als eine Einladung, Kunst als Sprache zu begreifen – und Sprache als eine Form von Kunst. Dabei geht es nicht um Übersetzung im wörtlichen Sinn, sondern um die Erfahrung von Bedeutungsverschiebung. Was geschieht, wenn ein Kunstwerk in Worte gefasst wird? Was geht verloren, was entsteht neu? Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Die gezeigten Werke eröffnen Assoziationen und regen zu individuellen Deutungen an. Sie verlangen vom Publikum keine einheitliche Lesart, sondern ermutigen dazu, in die Stille zwischen den Worten hineinzuhören – dorthin, wo die Sprache aufhört und das Erleben beginnt. In diesem Sinne ist „Shifting the Silence“ nicht nur eine Kunstausstellung, sondern auch ein Nachdenken über Kommunikation, Wahrnehmung und die Macht – oder Ohnmacht – der Sprache.

 

Nicole Wermers, Reclining Female #7, 2024, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich, Sammlung KiCo / KiCo Collection © Nicole Wermers
Nicole Wermers, Reclining Female #7, 2024, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München / Lenbachhaus Munich, Sammlung KiCo / KiCo Collection © Nicole Wermers

Ein offenes Interpretationsmuster

Der Titel „Shifting the Silence. Die Stille verschieben“ steht der Ausstellung als leitender Gedanke zur Seite. Er eröffnet ein offenes Interpretationsmuster, das die einzelnen Werke miteinander verbindet, ohne sie festzulegen. Das Konzept beruht auf Assoziationen, Übergängen und Zwischenräumen – und genau in diesen Zwischenräumen entfaltet sich das Denken der Kunst. Die Ausstellung versteht sich als ein dynamisches System, in dem die Besucherinnen und Besucher selbst Teil der Bedeutungsbildung werden. Ihre Wahrnehmung, ihre Gedanken und ihr innerer Dialog werden zu einem wesentlichen Bestandteil des Ausstellungserlebnisses. Kuratorisch setzt die Schau damit ein Zeichen gegen Eindeutigkeit und für Vielstimmigkeit – eine Haltung, die auch Etel Adnans Werk prägt.


Die Kunst, die Stille zu verschieben

Mit „Shifting the Silence. Die Stille verschieben“ präsentiert das Lenbachhaus eine Ausstellung, die weit über eine reine Werkschau hinausgeht. Sie ist ein poetischer, philosophischer und ästhetischer Raum des Nachdenkens über Kunst, Sprache und Wahrnehmung. Ausgehend von Etel Adnans letzter Veröffentlichung entsteht ein Dialog zwischen Literatur und Bildender Kunst, zwischen Stille und Ausdruck, zwischen Nachdenken und Erleben. Die Ausstellung lädt dazu ein, das Unsagbare nicht zu überwinden, sondern ihm zuzuhören – und damit die Stille selbst zu verschieben.

Ausstellungsort: Lenbachhaus München
Eröffnung: 14. Oktober 2025
Kurator:innen: Eva Huttenlauch, Matthias Mühling

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