05.10.2017

Beruf

Sehen wir wirklich, was wir sehen?

Diplom-Restaurator Dr. Paul-Bernhard Eipper in der Restaurierungswerkstätte. Foto: Universalmuseum Joanneum

Diplom-Restaurator Dr. Paul-Bernhard Eipper in der Restaurierungswerkstätte. Foto: Universalmuseum Joanneum

Diplom-Restaurator Dr. Paul-Bernhard Eipper appelliert für wissenschaftliches Arbeiten und interdisziplinäres Austausch. Dazu zieht der Leiter des Referats Restaurierung am Universal Museum Joanneum den bekannten Systemtheoretiker Niklas Luhmann und den Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno heran


Wir sind alle Opfer unserer Wahrnehmung

Gerne möchte ich Helmut Schmidts (1918–2015) Bonmot: „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen!“ nutzen, um zu einer uns alle beschäftigenden Thematik zu kommen. Die Vision eines Berufsfeldes stand zu Beginn unserer Ausbildung. Dafür haben wir alle mehr oder minder große Opfer auf uns genommen. Und ja, es ist ein Privileg, mit dem Erhalt von etwas nicht unbedingt Lebensnotwendigem in der heutigen Zeit sein Leben finanzieren zu können. Unsere Wahrnehmung von den Umständen, unter denen wir arbeiten, hat dabei genauso ihre Berechtigung wie die Notwendigkeit, das was wir sehen, zu beurteilen.

Johann Wolfgang von Goethes berühmtes Zitat „Man sieht nur, was man weiß!“ bestätigt unsere Vermutung: Wir alle sind in gewisser Hinsicht Opfer unserer subjektiven Wahrnehmung und unserer Selbsteinschätzung. Beides hängt zusammen und beeinflusst sich manchmal positiv – und leider auch manchmal negativ. Der schöne wie lapidare Ausspruch „Wir können sehen, was wir sehen können, wir können aber nicht sehen, was wir nicht sehen können“ von Niklas Luhmann, dem wichtigsten Vertreter der soziologischen Systemtheorie, wird von dem Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi kongenial ergänzt: „Wir sind in unserer Erkenntnis und Wahrnehmung viel stärker von einem Wissen geleitet, als wir das wissen. Wenn wir wenigstens das wissen könnten, könnten wir angemessener mit dem Wissen umgehen.“

Nur Offenheit macht Entwicklung möglich

Wir sollten an unserer eigenen Basis arbeiten: Die Lektüre von Fachliteratur erweitert nicht nur den Horizont, sondern inspiriert vielleicht sogar zu eigenen Forschungen. Berührungsängste können wir uns nicht leisten. Hätten wir diese Offenheit nicht, würde sich in der Konservierung/Restaurierung nichts tun und nichts entwickeln. Schließlich hat die Frankfurter Soziologie- und Philosophie-Ikone Theodor W. Adorno uns alle vor einem Stillstand gewarnt: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.“ Deshalb sollten wir uns gegenseitig fördern: Und, ist es nicht schön, den Elan des anderen zu unterstützen?

Meiner Einschätzung nach duldet das fachlich fundierte Argument keine hierarchische Blockade. Nachfolgenden Generationen werden wiederholte Fehlentscheidungen unserer Zeit nicht verständlich gemacht werden können, weshalb ich dazu aufrufe, sich im Bereich der Kunst auf Augenhöhe zu begeben, sich endlich objektiv auszutauschen und die archaische Tradition des Rechthaben-Wollens und Sich-Durchsetzen-Müssens endlich hinter sich zulassen.

Auch wenn es in den bestehenden Systemen nicht immer einfach für uns ist: Lassen Sie sich die positive Freude an Ihrer Arbeit nicht nehmen: Sie kann uns helfen unsere Vision, möglichst viel von dem uns Anvertrauten zu erhalten, umzusetzen. Auch wenn wir damit mancherorts für Erstaunen sorgen, wir sind kein Fall für den Arzt. Ich denke, nur gemeinsam können die beteiligten Fakultäten Werke der bildenden Kunst deuten und umfassender erforschen, um so unserem Bildungs- und Bewahrungsauftrag zu erfüllen.

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