Die Neue Nationalgalerie in Berlin widmet der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin vom 23. November 2024 bis zum 6. April 2025 eine umfassende Retrospektive. Unter dem Titel This Will Not End Well werden mehr als vier Jahrzehnte ihres künstlerischen Schaffens präsentiert. Die Ausstellung, nach Stationen in Stockholm und Amsterdam nun in Berlin angekommen, wird anschließend in Mailand und Paris zu sehen sein. Goldins Werk gilt als bahnbrechend, da es radikalste Intimität und sozialgesellschaftliche Themen mit einer unverblümten Direktheit verknüpft. Ihr Fokus auf persönliche und intime Erlebnisse und marginalisierte Perspektiven hat sie zu einer der einflussreichsten Künstler*innen ihrer Generation gemacht.
Eine immersive Ausstellungserfahrung
Die Ausstellung in Berlin wurde von der Architektin Hala Wardé gestaltet und nutzt die ikonische Architektur der Neuen Nationalgalerie auf einzigartige Weise. Mehrere Pavillons, die in der oberen Halle errichtet wurden, sind einzelnen Werkgruppen Goldins gewidmet. Gemeinsam bilden sie ein „künstlerisches Dorf“, das die Betrachter*innen dazu einlädt, in Goldins Welt einzutauchen. Diese räumliche Inszenierung schafft nicht nur neue Kontexte für die Werke, sondern fördert auch eine direkten Blick mit ihren Inhalten. Ein besonderes Highlight ist eines ihrer ersten Werke The Ballad of Sexual Dependency (1981–2022). Diese Werkreihe dokumentiert das Leben in Provincetown, Massachusetts, der Lower East Side, New York City, Berlin und London von de 1970er- und 80er-Jahren bis in die Gegenwart auf eine ikonische Goldin Art und Weise. Intimität, Partnerschaft, Partys und die Herausforderungen von Liebe und Abhängigkeit werden in teils schmerzhafter Ehrlichkeit gezeigt. Die Arbeit spiegelt nicht nur persönliche Geschichten wider, sondern auch die kollektive Erfahrung einer Generation, die von der AIDS-Krise und gesellschaftlicher Stigmatisierung geprägt war.
Radikale Intimität
Neben The Ballad of Sexual Dependency präsentiert die Ausstellung eine Auswahl weiterer bedeutender Werkserien, darunter The Other Side (1992–2021). Diese Serie ist eine liebevolle Hommage an Goldins transsexuelle Freund*innen, die sie über Jahrzehnte hinweg porträtiert hat. Die Bilder zeigen nicht nur die Stärke und Schönheit dieser Menschen, sondern beleuchten auch die Herausforderungen, die sie in einer oft feindlichen Gesellschaft bewältigen mussten. Ebenfalls ausgestellt ist Memory Lost (2019–2021), eine Arbeit, die sich intensiv mit der dunklen Realität der Drogensucht auseinandersetzt. Durch eine Kombination aus Fotografien, Tonaufnahmen und Archivmaterial wird eine emotional aufwühlende Erzählung geschaffen, die die Betrachter*innen unweigerlich in ihren Bann zieht. Im Gegensatz dazu bietet Fire Leap (2010–2022) einen Einblick in die unbeschwerte Welt von Kindern und stellt einen seltenen, heiteren Kontrast in Goldins Werk dar. Eine der experimentellsten Arbeiten ist Sirens (2019–2020), ein visuell und akustisch intensives Werk, das die verführerische, aber gefährliche Welt von Sucht thematisiert. Die hypnotischen Bilder und der Soundtrack versetzen die Betrachter*innen in einen tranceähnlichen Zustand, der die Ambivalenz des Themas eindringlich vermittelt. Diashows bilden das Herzstück von Nan Goldins künstlerischer Praxis. Dieses Medium erlaubt in der Ausstellung Fotografien, Musik und Narrative zu vereinen und so eine intime, fast autobiografische Erzählweise zu schaffen. Jede ihrer Diashows wird kontinuierlich überarbeitet und aktualisiert, was ihre Arbeiten zu lebendigen Dokumenten macht. Denn Goldins Werk ist immer auch ein Zeitdokument.
Aktivismus und Kunst
Nan Goldin ist nicht nur für ihre Kunst bekannt, sondern auch für ihr soziales Engagement. Im Jahr 2017 gründete sie die Initiative P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), die auf die Rolle der Sackler Familie in der Opioidkrise aufmerksam macht. Goldins Aktivismus hat dazu beigetragen, dass viele Museen den Namen Sackler aus ihren Räumen entfernt haben. Dieser Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit spiegelt sich auch in ihren Werken wider, die oft die Perspektiven von Menschen beleuchten, die am Rand der Gesellschaft stehen.
Berlin als kreativer Knotenpunkt
Die Verbindung zwischen Nan Goldin und Berlin reicht weit zurück. Bereits 1986 wurde ihre Arbeit The Ballad of Sexual Dependency im Kino Arsenal gezeigt, und 1991 zog sie mit einem DAAD-Stipendium in die Stadt. In Interviews betonte sie immer wieder, wie sehr sie sich in Berlin zuhause fühlte: „Die besten Jahre meines Lebens waren hier in Berlin“, sagte sie 2010. Diese emotionale Verbindung macht die Berliner Ausstellung zu einem besonderen Highlight ihrer Retrospektive. Mit ihrer emotionalen Tiefe, ihrem politischen Engagement und ihrer einzigartigen Ästhetik zeigt Nan Goldins Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie eindrucksvoll, warum sie zu den bedeutendsten Künstler*innen unserer Zeit zählt. Die Ausstellung ist nicht nur ein Rückblick auf ein beeindruckendes Werk, sondern auch ein Weckruf, wie eng Kunst und gesellschaftliche Realität miteinander verbunden sind.
Aktuelle Kontroversen um das Symposium
Neben der Ausstellung in der Nationalgalerie sorgt ein geplantes Symposium für Streit. Die Berliner Kunstszene ist seit dem 7. Oktober 2023 von tiefen Spannungen geprägt, die durch viele hitzige und emotionale Diskussionen verstärkt werden. In diesem kulturellen Klima droht die Ausstellung zum Auslöser weiterer Konflikte zu werden, nachdem das begleitende Symposium von Zu- und Absagen geprägt, wohl kaum mehr stattfinden wird. Seit Monaten wird um dessen Umsetzung gerungen. Die Debatte zeigt, wie politische Konflikte zunehmend in den kulturellen Diskurs einfließen und die Kunstwelt spalten.
Im Rahmen der Ausstellung wird ein Katalog veröffentlicht: Eine limitierte Edition in neun Bänden, die sämtliche Diashows und Multimediaprojekte von Nan Goldin dokumentiert. Ergänzt wird diese Sammlung durch Texte verschiedener Autor*innen, die ihre Perspektiven auf das beeindruckende Werk der Künstlerin präsentieren. Sowohl der Ausstellungskatalog als auch die Buchreihe entstehen in Kooperation zwischen dem Moderna Museet und dem Steidl Verlag.