30.10.2025

Kunststück

Manierismus II – Malerei und Skulptur

Bronzinos Eleonora di Toledo mit ihrem Sohn Giovanni (1545) zeigt manieristische Eleganz: gestelzte Haltung, perfekte Proportionen und bewusste Stilisierung statt natürlicher Darstellung. Foto: Gemeinfrei, Google Arts & Culture
Bronzinos Eleonora di Toledo mit ihrem Sohn Giovanni (1545) zeigt manieristische Eleganz: gestelzte Haltung, perfekte Proportionen und bewusste Stilisierung statt natürlicher Darstellung. Foto: Gemeinfrei, Google Arts & Culture

Nach der harmonischen Vollendung der Hochrenaissance wandten sich die Künstler des 16. Jahrhunderts zunehmend von der klaren Ordnung und idealen Schönheit ab. Der Manierismus suchte neue Ausdrucksformen – emotionaler, virtuoser und oft rätselhaft. Maler und Bildhauer spielten mit Proportionen, Raum und Farbe, um Spannung, Bewegung und Ambiguität zu erzeugen. In Florenz, Rom und Parma entstanden Werke, die weniger Maß und Mitte suchten, sondern das Ungewöhnliche, das Gesteigerte und das Kunstvolle feierten.


Stilwandel und neue Ausdrucksformen

Die Malerei des Manierismus reagierte auf die überragende Perfektion der Hochrenaissance. Nach Leonardo, Raffael und Michelangelo schien das Ideal vollendet. Die nächste Generation stellte sich die Frage: Wohin nach der Vollkommenheit? Die Antwort lautete: in die bewusste Übersteigerung. Figuren wurden länger, Bewegungen komplexer, Perspektiven spannungsreicher. Kompositionen verloren ihre zentrale Harmonie und entwickelten stattdessen Dynamik und Unruhe. Licht und Farbe traten in den Dienst des Ausdrucks, nicht der Naturabbildung. Kunst wurde zum Mittel intellektueller wie emotionaler Erfahrung.
Ein früher Wegbereiter war Jacopo Pontormo. In seinem „Abendmahl“ (1525–1528, Kloster San Lorenzo, Florenz) verschiebt er die klassische Ordnung vollständig. Die Figuren scheinen im Raum zu schweben, ihre Körper sind verdreht, ihre Gesichter von innerer Spannung geprägt. Das Geschehen ist nicht mehr theatralisch, sondern existenziell – eine Meditation über die Beziehung zwischen Mensch und göttlichem Geheimnis. Pontormo bricht die klare Komposition, um emotionale Intensität zu gewinnen.
Sein Schüler Agnolo Bronzino trieb diesen Stil zur formalen Perfektion. In seinem berühmten Porträt „Eleonora di Toledo mit ihrem Sohn Giovanni“ (1545, Galleria degli Uffizi, Florenz) vereint er kühle Eleganz mit technischer Präzision. Die Figuren wirken marmorn, ihre Posen distanziert und kontrolliert. Die Proportionen der Körper, vor allem bei Eleonora, sind überlängt, was typisch ist für den Manierismus. Das Doppelporträt zeigt also keine detaillierte Porträtgenauigkeit, sondern präsentiert ein Idealbild. Und doch verbirgt sich in dem Gemälde ein kleiner Hinweis, der es sehr anrührend und natürlicher macht: Der Kragen des etwa zwei bis dreijährigen Jungens ist etwas verrutscht, so als ob er gerade vom Herumtollen zum Porträtieren gekommen ist. Insgesamt lässt sich dennoch festhalten, dass sich der intellektuelle Zug des Manierismus zeigt: Kunst als bewusste Konstruktion, als Reflexion über das Schöne – nicht als bloße Darstellung der Realität.


El Greco und die spirituelle Übersteigerung

Eine Sonderrolle nimmt El Greco (Domínikos Theotokópoulos) ein, der aus Kreta stammte, in Venedig und Rom ausgebildet wurde und in Spanien seinen unverwechselbaren Stil fand. Seine Malerei vereint byzantinische Strenge, venezianische Farbigkeit und manieristische Formdehnung. Werke wie „Die Entkleidung Christi“ (1577–1579, Kathedrale von Toledo) oder „Das Begräbnis des Grafen Orgaz“ (1586–1588, Pfarrkirche Santo Tomé, Toledo) zeigen überlängte Figuren, irisierende Farben und ein flirrendes Licht, das aus dem Inneren der Komposition zu kommen scheint. El Grecos Malerei steht exemplarisch für den spirituellen, visionären Ausdruck des späten Manierismus.
In Italien blieb der Manierismus stärker mit der höfischen Repräsentationskunst verbunden. Künstler wie Giorgio Vasari, Francesco Salviati und Federico Zuccari entwickelten eine elegante, allegorisch überladene Malerei, die in Freskenzyklen und Palastausstattungen kulminierte. Vasaris Fresken im Salone dei Cinquecento im Palazzo Vecchio (ab 1555) sind Beispiele einer Kunst, die Macht, Bildung und historische Allegorie zu einem intellektuellen Gesamtkonzept verschmilzt.

El Greco, „Die Entkleidung Christi“ (1577–1579): Überlängte Körper, expressive Gestik und leuchtende Farbigkeit machen die Szene zu einem typischen Beispiel manieristischer Dramatik und spiritueller Intensität. CC BY-SA 4.0, Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen
El Greco, „Die Entkleidung Christi“ (1577–1579): Überlängte Körper, expressive Gestik und leuchtende Farbigkeit machen die Szene zu einem typischen Beispiel manieristischer Dramatik und spiritueller Intensität. CC BY-SA 4.0, Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Manieristische Skulptur: Bewegung und Ausdruck

Auch die Skulptur des Manierismus löste sich von der klassischen Ruhe. Sie suchte Bewegung, Spannung und gesteigerte Emotionalität. Benvenuto Cellini gilt als Inbegriff dieser Haltung. Seine Bronzeplastik „Perseus mit dem Haupt der Medusa“ (1545–1554, Loggia dei Lanzi, Florenz) zeigt eine Figur, die in der Drehung erstarrt. Der Körper ist bis zur äußersten Spannung modelliert, Anatomie und Ausdruck sind übersteigert, das Pathos theatralisch. Cellinis Werk ist kein Standbild, sondern eine gefrorene Bewegung – heroisch, virtuos und technisch brillant.
Ähnlich expressiv wirkt Giambolognas (Jean de Boulogne) „Raub der Sabinerin“ (1583, Loggia dei Lanzi, Florenz). Drei ineinander verschlungene Körper winden sich spiralförmig nach oben; jede Perspektive bietet ein neues Bild. Die Skulptur verlangt, dass sich der Betrachtende mit ihr bewegt – sie ist für den Rundgang geschaffen. Dieses Prinzip der „figura serpentinata“ wurde zu einem Markenzeichen manieristischer Plastik. Doch schon in der Spätrenaissance fingen Bildhauer mit der Entwicklung des Motivs an. In der „figura sepertinata“ kulminiert das ästhetische Ideal des Manierismus: Kunst als bewusster Akt der Steigerung, als Ausdruck intellektueller Virtuosität.

Giambologna, Raub der Sabinerin (1583): Die verschlungenen Figuren in spiralförmiger Bewegung exemplifizieren die manieristische figura serpentinata, die Dynamik, Virtuosität und das Spiel mit Perspektive in der Skulptur betont.Von I, Sailko, CC BY-SA 3.0, via: Wikimedia Commons
Giambologna, Raub der Sabinerin (1583): Die verschlungenen Figuren in spiralförmiger Bewegung exemplifizieren die manieristische figura serpentinata, die Dynamik, Virtuosität und das Spiel mit Perspektive in der Skulptur betont.Von I, Sailko, CC BY-SA 3.0, via: Wikimedia Commons

Ausdruck, Rätsel und Intellekt

Manieristische Kunst fordert ihre Betrachtenden. Sie will nicht nur gefallen, sondern irritieren und faszinieren. Figuren wirken übermenschlich elegant, Gesten theatralisch, Farben eigentümlich künstlich. In der Malerei wie in der Skulptur verschiebt sich die Balance zwischen Form und Inhalt: Nicht die Nachahmung der Natur steht im Vordergrund, sondern die schöpferische Interpretation. Der Manierismus feiert den Künstler als reflektierten Schöpfer seines eigenen Stils.
Gleichzeitig spiegeln die manieristischen Werke eine Zeit des Umbruchs. Der Sacco di Roma 1527 – die Plünderung Roms durch kaiserliche Söldner aus Deutschland, Spanien und Italien – sowie religiöse und politische Spannungen in ganz Europa führten zu einer Kunst, die nicht mehr im Gleichgewicht ruht. Die Figuren Pontormos oder El Grecos scheinen von geistiger Unruhe durchdrungen – sie verkörpern die Suche nach Orientierung in einer Welt, in der die alte Ordnung zerbricht. Der Manierismus ist daher nicht bloß ein Stil, sondern Ausdruck kultureller Krisenerfahrung: eine Kunst der Übergangszeit, die das Klassische noch kennt, aber bereits das Expressive des Barocks vorahnt.


Spannung, Bewegung und die Kunst der Übertreibung

In Malerei wie Skulptur offenbart sich der Manierismus als Kunst der Virtuosität. Künstler loteten die Grenzen des Darstellbaren aus und machten den Stil selbst zum Thema. Überlängte Figuren, komplexe Kompositionen und theatralische Posen sind keine Zufälle, sondern bewusst eingesetzte Stilmittel. Sie markieren eine Epoche, in der Kunst nicht mehr nur Schönheit suchte, sondern Ausdruck, Bewegung und Rätsel.
Wer den Manierismus betrachtet, erkennt den Moment, in dem die Ordnung der Renaissance ins Schweben gerät. Zwischen Ideal und Ausdruck, zwischen Vernunft und Leidenschaft entsteht eine Kunst, die den Menschen nicht mehr im Gleichgewicht zeigt, sondern im Spannungsfeld seiner Möglichkeiten. Für Forschung wie Restaurierung bleibt diese Epoche faszinierend, weil sie die Grenzen klassischer Form sprengt – und damit den Weg zur Dramatik des Barocks öffnet.

Vorheriger Artikel

Nächster Artikel

das könnte Ihnen auch gefallen

Scroll to Top