08.10.2025

Kunststück

Lilith – Die erste Frau Adams

John Colliers „Lilith“ (1892) zeigt die erste Frau Adams als verführerische, selbstbestimmte Gestalt – zwischen Dämonin und Symbol weiblicher Macht. Foto: Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons
John Colliers „Lilith“ (1892) zeigt die erste Frau Adams als verführerische, selbstbestimmte Gestalt – zwischen Dämonin und Symbol weiblicher Macht. Foto: Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons

Wer war Lilith – Dämonin, Göttin oder einfach nur die erste Frau, die „Nein“ sagte? Zwischen antiken Mythen und modernen Feminismen wandert sie durch die Jahrtausende: vom geflügelten Nachtgeist zur Ikone weiblicher Selbstbestimmung. Eine Spurensuche nach der geheimnisvollsten Gestalt der Schöpfungsgeschichte.

Wenn von der biblischen Schöpfungsgeschichte die Rede ist, denken die meisten an Adam und Eva. Doch am Rand der religiösen Überlieferung, halb vergessen, halb gefürchtet, steht eine andere Gestalt: Lilith. Sie gilt als Adams erste Frau, als Dämonin, als Symbol der Versuchung – und heute als Ikone weiblicher Selbstbestimmung. Kaum eine Figur hat so viele Wandlungen erfahren wie sie. Lilith ist Mythos, Spiegel und Projektionsfläche zugleich.


Von der Wüste Mesopotamiens zum Garten Eden

Ihre Geschichte beginnt lange vor der Bibel, in den Mythen Mesopotamiens. In sumerischen und babylonischen Texten erscheinen Wesen namens Lilītu oder Lilu – geflügelte Nachtgeister, die Krankheiten bringen, Kinder bedrohen und Männer in Träumen verführen. Diese Dämoninnen verkörperten die ungezähmte Seite der Natur, das Chaos der Nacht und der Begierde. In der hebräischen Bibel wird Lilith nur ein einziges Mal erwähnt – in Jesaja 34,14. Dort taucht sie auf in einer Wüstenlandschaft, umgeben von Eulen und Schakalen, als Symbol der Einsamkeit und Verwüstung. Die Schrift bleibt vage, doch spätere jüdische Autoren deuteten diese Erwähnung als Spur eines uralten Dämonenmythos. Aus dieser Andeutung wuchs über Jahrhunderte ein vielschichtiges Erzählgeflecht.


Die erste Frau Adams

Besonders im mittelalterlichen Alphabet des Ben Sira (8.–10. Jahrhundert n. Chr.) erhält Lilith eine neue Rolle. Hier wird sie als Adams erste Gefährtin beschrieben – geschaffen aus der gleichen Erde wie er, gleich an Wesen und Würde. Doch als Adam verlangt, dass sie sich ihm unterordne, weigert sie sich: „Wir sind gleich, denn wir sind aus demselben Stoff gemacht.“ Aus dieser Weigerung entsteht der Bruch. Lilith verlässt den Garten Eden, spricht den unaussprechlichen Namen Gottes aus und flieht ans Rote Meer. Dort verbindet sie sich laut der Legende mit Dämonen und bringt unzählige Geisterwesen hervor. Die rabbinische Tradition deutete sie fortan als nächtliche Versucherin und Bedrohung für Neugeborene – ein weiblicher Dämon, vor dem man sich durch Amulette schützen musste. Doch zwischen den Zeilen dieser Erzählung schimmert etwas anderes durch: Lilith ist die erste Figur, die sich weigert, sich einer Autorität zu beugen. Ihre Flucht aus Eden ist zugleich ein Akt des Ungehorsams und der Selbstbestimmung – ein „Nein“, das die Ordnung erschüttert.

Der Druck zeigt Adam, Eva und Lilith und thematisiert auf künstlerische Weise Fragen von Menschlichkeit, Freiheit und der Rolle der Frau in mythologischen Erzählungen. Foto: Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons
Der Druck zeigt Adam, Eva und Lilith und thematisiert auf künstlerische Weise Fragen von Menschlichkeit, Freiheit und der Rolle der Frau in mythologischen Erzählungen. Foto: Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons

Die dunkle Königin der Kabbala

In der jüdischen Mystik, der Kabbala, wird Lilith weiter ausgebaut. Im Sohar, dem zentralen Werk des 13. Jahrhunderts, erscheint sie als Gemahlin des Dämons Samael, als Königin der „anderen Seite“ – jener dunklen Welt, die das göttliche Licht spiegelt und zugleich verzerrt. Sie verkörpert das Prinzip der Verführung, des Chaos und der Trennung von Gott. Doch Lilith ist in dieser Deutung mehr als nur böse. Sie ist das notwendige Gegenstück zur göttlichen Ordnung, die Verkörperung des weiblichen Schattens, der in jeder Schöpfung mitschwingt. Ihre Existenz erinnert daran, dass Licht und Dunkel untrennbar miteinander verbunden sind – eine Einsicht, die später auch in der Psychoanalyse wiederklingt.


Lilith in der Kunst

Kaum eine mythische Figur hat Künstler so dauerhaft inspiriert wie Lilith. Im Mittelalter erscheint sie in Dämonologien und Bibelillustrationen mit Schlangenleib, Fledermausflügeln oder als verführerische Frau mit langem Haar – ein Sinnbild der Sünde. In manchen Darstellungen des Paradieses wird sie sogar mit der Schlange identifiziert, die Eva verführt: nicht die Dienerin des Bösen, sondern dessen Urheberin. In der Renaissance bleibt Lilith meist Randfigur, doch im 19. Jahrhundert erlebt sie ein spektakuläres Comeback. Die Präraffaeliten – Künstler wie Dante Gabriel Rossetti – machen sie zur Muse. Rossettis Gemälde Lady Lilith (1868) zeigt sie als schöne, in sich versunkene Frau, die ihr Haar kämmt: ein Symbol narzisstischer Selbstliebe, aber auch weiblicher Autonomie. Ähnlich malt John Collier 1892 eine nackte Lilith, umschlungen von einer Schlange – die perfekte Verkörperung erotischer Macht.
Im 20. Jahrhundert entdecken Künstlerinnen Lilith neu. Die US-amerikanische Bildhauerin Kiki Smith schuf 1994 eine Skulptur, die Lilith kopfüber an einer Wand hängen zeigt – verletzlich und gleichzeitig bedrohlich. Ihre Lilith blickt den Betrachter direkt an, eine Mischung aus Mensch, Tier und Mythos. Auch in der Literatur, Musik und Popkultur lebt sie weiter: als Figur in Fantasy-Serien, als Symbol in feministischen Magazinen, als Namenspatin des Lilith Fair, eines Musikfestivals ausschließlich für Künstlerinnen. Diese künstlerischen Darstellungen zeigen, wie wandelbar ihr Mythos ist. Jede Epoche erschafft ihre eigene Lilith: Dämonin, Versucherin, Göttin, Emanzipationssymbol.

In Lady Lilith stellt Rossetti Lilith als geheimnisvolle und verführerische Gestalt dar, die Schönheit und Macht zugleich verkörpert. Foto: Delaware Art Museum, Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons
In Lady Lilith stellt Rossetti Lilith als geheimnisvolle und verführerische Gestalt dar, die Schönheit und Macht zugleich verkörpert. Foto: Delaware Art Museum, Gemeinfrei, via: Wikimedia Commons

Vom Dämon zur Ikone

In der Moderne hat Lilith ihre dunklen Flügel weitgehend abgestreift. Feministische Theologinnen wie Judith Plaskow oder Ewa Wipszycka lesen sie als Symbol für die verdrängte weibliche Stimme in religiösen Texten. In der Astrologie steht der sogenannte „Schwarze Mond Lilith“ für Unabhängigkeit und das Unbewusste – ein Hinweis darauf, wie tief ihr Mythos in das kulturelle Bewusstsein eingesickert ist. Heute ist Lilith ein Paradox: eine Figur, die zugleich religiös verdammt und kulturell gefeiert wird. Sie verkörpert die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch die Angst vor dem Kontrollverlust. Vielleicht liegt gerade darin ihre bleibende Faszination – sie steht für das, was sich nicht domestizieren lässt, für die Kraft, die sich der Ordnung entzieht.
Lilith ist mehr als eine mythologische Figur. Sie ist eine Projektionsfläche für Fragen, die bis heute aktuell sind: Wer darf Macht ausüben? Was bedeutet Gleichheit? Und wie viel Chaos verträgt die Ordnung? Ob Dämonin, Göttin oder Sinnbild weiblicher Selbstbestimmung – Lilith bleibt die Stimme, die im Paradies „Nein“ sagte. Und vielleicht ist dieses „Nein“ der erste Schritt zur Freiheit.

 

Weiterlesen: Adam und Eva in der Kunst.

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