Die Wiege des Jugendstils in Deutschland lag in München. Wer an diese Kunstrichtung denkt, sieht vielleicht üppige Ornamentik vor seinem inneren Auge, aber er war viel mehr: Ein Besuch in der gemeinsamen Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums unter dem Titel „Jugendstil. Made in Munich“ zeigt, dass der Jugendstil nicht einfach nur eine Epoche der Kunstgeschichte war, sondern Einfluss auf das Leben nahm und das bis heute tut.
Die Zeit um 1900 war geprägt von Auf- und auch Umbrüchen, diesen konnte sich auch die Kunst nicht entziehen. Junge Künstlerinnen und Künstler wollten allerorten die Kunst revolutionieren – so auch in München. Ihre Zeit war bestimmt von wissenschaftlichen und technischen Neuerungen, die in rasanter zeitlicher Abfolge auftraten. Zu diese Neuerungen kam auch gesellschaftliche Umbrüche mit hinzu. Und es traten immer häufiger Fragen nach einer gerechteren und nachhaltigeren Lebensführung auf. Im Prinzip auch Fragen, die uns heute noch beschäftigen. Die Antwort der Künstlerinnen und Künstler auf diese Fragen war die Entwicklung eines neuen Stils – in Frankreich „Art nouveau“ genannt, in Deutschland „Jugendstil“ – angelehnt an die Zeitschrift „Jugend“. Das Ziel war es alle Lebensbereiche bis ins kleinste Detail zu durchdringen und so entstanden zahlreiche Objekte im Kunsthandwerk, in der Malerei, Grafik, Fotografie und Skulptur aber auch die Mode und der Schmuck wurden von dieser neuen Strömung erfasst und beeinflusst. Objekte aus all diesen Gattungen präsentieren die Kunsthalle München und das Münchner Stadtmuseum in der gemeinsamen Ausstellung. Das Stadtmuseum, das derzeit aufgrund von Sanierungsmaßnahmen geschlossen ist, steuert rund 300 Ausstellungsstücke bei. Das Museum begann recht früh – bereits 1949 – mit dem Sammeln von Jugendstilobjekten. Die bereits umfangreiche Sammlung wurde dann 2019 durch eine Schenkung noch einmal vergrößert. Diese Sammlung dient auch als Anlass für die Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“.
Weg mit dem Fleisch und dem Korsett
München genoss zur Jahrhundertwende den Ruf einer weltoffene Kulturmetropole, die neben Paris als die Kunststadt Europas galt. So verwundert es auch nicht, dass sich gerade hier eine Vielzahl an visionären Künstlerinnen und Künstlern ansiedelte. Ein wichtiges Kriterium waren zudem die ausgezeichneten Ausstellungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. So kamen Künstler, aber auch Künstlerinnen aus ganz Europa nach München. Sie alle waren vereint in dem Besterben einen neuen Stil zu finden, der sich von dem angestaubten Historismus absetzte, der auch in München stark vertreten war.
Die Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“ macht deutlich, dass der Jugendstil kein einheitlicher Stil ist, sondern, dass jede Künstlerin und jeder Künstler eine eigene Formensprache entwickelten. In insgesamt zehn Kapiteln werden wegweisende Ideen und Inspirationsquellen in der Schau vorgestellt. Im ersten Raum werden die Besuchenden in die (Wohn-) Welt der Jahrhundertwende eingeführt. In diesem Raum wird man in den Salon und das Speisezimmer des Wohnhauses von Carl von Thieme (1844–1924), einem Mitbegründer der Münchner Rückversicherung, in der Georgenstraße in Schwabing versetzt. Das Interieur der Räume wird hier wieder zusammengebracht und die Besuchenden bekommen eine Vorstellung davon, wie der Jugendstil nach Ganzheitlichkeit im Sinne des Gesamtkunstwerks strebte. Ein besonderes Highlight des zweiten Raums ist eine Textilarbeit, die Hermann Obrist (1862–1927) entworfen und Berthe Ruchet (1855–1932) ausgeführt hat. Die unkonventionelle Stickarbeit begeisterte bereits bei ihrer ersten Ausstellung das Publikum. Der „Wandbehang mit Alpenveilchen“, der um 1895 entstand weist eine dynamische Linienführung auf und bekam daher auch den Spitznamen „Peitschenhieb“. Er wird zum ersten Mal nach langer Zeit wieder im Original in einer Ausstellung präsentiert und kann als Haupt- und Initialwerk des Münchner Jugendstils angesehen werden. Es verweist zudem auf eine wichtige Inspirationsquelle der Künstlerinnen und Künstler: die Tier- und Pflanzenwelt. Diesem Themenbereich widmen sich dann auch konsequenterweise zwei Ausstellungsräume, die auch die immer mehr zunehmenden Tendenzen der Stilisierung aufgreifen. Besonders deutlich wird dies in der Rekonstruktion des berühmten Fassaden-Ornaments, das August Endell (1871–1925) für das Fotoatelier Elvira, einem wichtigen Ort der Münchner Frauenbewegung, schuf.
Der Jugendstil sollte nicht nur als Kunststil, sondern muss aber auch als Gegenbewegung zur Industrialisierung und Urbanisierung gesehen werden. Alle Lebensbereiche sollten von diesen Idealen erfasst werden, sodass es damals schon Bestrebungen gab, ein umweltbewusstes Leben zu führen und es gab auch bereits vegetarische Restaurants, wie ein Plakat in der Ausstellung zeigt. Aber auch weitere Bereiche des Alltags sollten modernisiert werden, so kamen die sogenannten Reformkleider auf, die ohne Korsett getragen wurden.
Relevanz bis heute
Die Künstlerinnen und Künstler des Jugendstils nutzen aber auch die Vergangenheit zur Inspiration, insbesondere setzten sie sich mit vergangen Techniken auseinander, wie ein weiteres Kapitel der Ausstellung verdeutlicht. Hinzu kommt die Besinnung auf die Nationalstaatlichkeit, eine drängende Frage um die Jahrhundertwende. Deutlich wird dies auch darin, dass man sich mit der Märchen- und Sagenwelt auseinandersetzte. Dieses Thema haben die Künstlerinnen und Künstler auf vielfältige Art und Weise aufgegriffen. Das großformatige Werk von Fritz Erler setzt sich in starker Farbigkeit mit der Sage des Rübezahl auseinander, der in die Welt auszieht, um festzustellen, dass es zuhause am schönsten ist.
Und auch das Interesse an dem „Exotisch“-Außereuropäischen, dass die Menschen um 1900 umtrieb wurde von den Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen. Diesem Aspekt widmet sich ebenfalls ein Kapitel der Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“. Zugleich macht die Ausstellung auch deutlich, dass der Jugendstil Fragestellungen entwickelte, die auch uns heute noch umtreiben aber auch, dass er einen Einfluss auf spätere Generationen von Künstlerinnen und Künstlern sowie Designerinnen und Designer hat.
Information
Die Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“ ist eine Gemeinschaftsausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums. Sie wurde kuratiert von Roger Diederen und Anja Huber (Kunsthalle München) sowie Nico Kirchberger und Antonia Voit (Stadtmuseum München). Auf rund 1 200 m2 Ausstellungsfläche kann man vom 25. Oktober 2024 bis zum 23. März 2025 in die Epoche des Jugendstils eintauchen. Ein reichhaltiges Rahmenprogramm mit Führungen und Vorträgen sowie ein Ausstellungskatalog ergänzen die Schau.