Zum Jubiläum des 75. Todestags von James Ensor widmen im letzten Jahr vor allem Antwerpen, Brüssel und Ostende dem belgischen Maler Ausstellungen und Aktionen. Im Seebad, in dem er den Großteil seines Lebens verbracht hat, lockt das 2024 eröffnete James-Ensor-Haus mit dem renovierten alten Wohnhaus, einer interaktiven Präsentation im Informationscenter und einer mobilen App, die an die für Ensor relevanten Orte führt.

Ensors Erbe
Von 1917 bis zu seinem Tod 1949 wohnte James Ensor über einem Souvenirladen in der Vlaanderenstraat. Dieses Haus konnte man früher besichtigen. Doch mit der Neueröffnung ist aus dem kleinen Ensor-Haus ein richtiges Museum geworden, das den heutigen Ansprüchen an ein Kunstmuseum mit pädagogischem Auftrag entspricht. Die Einrichtung wurde um das Nebengebäude ergänzt. Das neue „Erlebnishaus“ mit einer Fläche von 690 m2 umfasst das Haus des Künstlers und fünf interaktive Erlebnisräume, in denen man in seine Welt eintauchen kann. Oder gleich dem Meister, der erst spät, in den 1920er-Jahren, internationale Anerkennung erfuhr, nacheifern. Jüngere Besucher können sich etwa beim Speedpainting vergnügen, um mithilfe von digitaler Technik selbst ein Ensor-Gemälde fertigzustellen. Darüber hinaus können sie mit 3D-Viewern entdecken, wie die umliegenden Straßen während der Belle Époque aussahen. In jedem Raum wird jeweils ein zentrales Thema entlang von Reproduktionen, Briefen, Filmen, Möbelstücken und animierten Werkprojektionen dargestellt: Einführung in die Welt von Ensor, Interieur, das öffentliche Leben von Ensor, die Kritik, Masken und verzerrte Gesichter. Jede Zielgruppe, von Kindern bis zu Kennern, lernt Ensor anhand eines für die Besucher maßgeschneiderten Audioguides auf interaktive Weise kennen. Gust Van Yper, der ehemalige Diener von Ensor, führ etwa die jungen Besucher. Unterwegs enthüllt er zahlreiche Anekdoten über die vielen Berühmtheiten, die hier zu Besuch kamen, das Leben im Haus und die Familienmitglieder.


Souvenir gefällig?
Der einstige Souvenirladen ist auch wieder geöffnet und empfängt Besucher so, wie der malende Sohn einer flämischen Händlerin und eines englischen Intellektuellen ihn selbst jahrzehntelang bewahrt hat. Zu sehen bekommt man chinesische Vasen, Segelschiffmodelle, zum Trocknen aufgehängte Kugelfische, Myriaden von Muscheln oder Fischskelette mit Affenschädeln. Als Ensor 1917 von einem Onkel, der im selben Geschäftszweig tätig war, das schmale Haus erbte, beließ er alles, wie es war. Den Kuriositätenladen, über dem er lebte und arbeitete, besuchten in den Jahren zwischen den Weltkriegen, als er schon ein hochgeschätzter Avantgardist war, Berühmtheiten wie Wassily Kandinsky, Edouard Vuillard, Erich Heckel, André Malraux und viele andere. Jahrelang war das Ensor-Haus eine schwer zugängliche, leicht zu übersehene städtische Gedenkstätte. Mehr als fünfzehn Besucher zugleich passten nicht in das Gebäude. Ab 1952 wurde es von dem Verein der Freunde von James Ensor als Museum genutzt. Seit 2008 wird es vom Kunstmuseum Mu.ZEE mitverwaltet. Nach rund zweieinhalbjähriger Renovierung ist es nun kaum wiederzuerkennen. Man habe sich von dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam inspirieren lassen, so Wim Vanseveren, strategischer Berater des Projekts und ehemaliger Leiter der flämischen Tourismusabteilung. Das neue Museum befindet sich inmitten der Stadt und liegt nur wenige Meter vom kilometerlangen Strand entfernt.
Frivoles Wimmelbild
Nun lässt sich eindrücklich nachvollziehen, warum Ensor wie kaum ein Zweiter von seiner unmittelbaren Umgebung inspiriert wurde. Dafür sorgt nicht zuletzt das Besucherzentrum in dem angrenzenden früheren Hotel Providence Regina, einem der wenigen erhaltenen Prunkbauten aus der goldenen Zeit Ostendes als „Königin der Seebäder“. Es bietet Platz für Wechselausstellungen und einen Geschenk-Shop. Bereits in der Eingangshalle lädt eine animierte Reproduktion eines frivolen Wimmelbildes von 1890 zum Anklicken von einzelnen Bildelementen ein, die daraufhin zum Leben erwachen. Die Badenden am Strand sind bei Aktivitäten zu sehen, die Ensor ins Satirische überzeichnete. Da wird zungengeküsst, geplanscht, gegrabscht und gespannt. Die Umkleidebude, auf der der ewige Junggeselle sich mit Fernrohr darstellte, trug einst die Nummer neunundsechzig. Dafür, dass das humorvolle Bild öffentlich gezeigt wurde, soll kein Geringerer als König Leopold II. gesorgt haben, der für die Gräuel im Kongo verantwortlich war und Ostende von einer Stadt der Fischer und Seeleute zur Lieblingsdestination der Haute Volée machte.
Zwischen Blumen und Skeletten
Ensor stellte sich in zahlreichen Selbstbildnissen dar, wie die im Empfangsbereich digitalisierten Autoporträts in Endlosschleife zeigen: als 19-Jähriger, der selbstbewusst vor der Staffelei steht, als Dandy mit blumenverziertem Frauenhut, einer Reverenz an den berühmten Vorgänger Peter Paul Rubens, der sich ähnlich verewigt hat, und schließlich als rauchendes Skelett an der Staffelei. In den Selbstporträts spiegelt sich sein vielfältiges und schwer erfassbares Gesamtwerk wider: mal realistisch, poetisch, mal höhnisch, makaber und karikaturistisch. Sie sind es auch, die ab März im Zentrum einer hauseigenen Ausstellung stehen werden.


Pinsel und Taste
Den Großteil seiner Werke hat Ensor auf dem Dachboden des Hauses seiner Eltern entworfen. Sein dort eingerichtetes Atelier ist in dem Museum nun im Maßstab 1:2 nachgebildet und mit großen Löchern versehen, in die Kinder ihren Kopf reinstecken können. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Marionetten-Ballett, das Ensor in einem riesigen Puppenhaus inszeniert hat, in dessen Innere man hineinschauen kann. Auf kleinstem Raum hat er mit 2,52 mal 4,3 Metern auch sein größtes und gewaltigstes Werk gemalt: „Der Einzug Christi in Brüssel“. In seiner Gesamtheit hatte er das Bild, das sich seit 1987 im Paul Getty-Museum in Los Angeles befindet, erst mit dem Umzug in das heutige Ensor-Haus im Jahr 1917 gesehen. Das Monumentalbild aus dem Jahr 1889 hängt als Reproduktion im blauen Saal des Ensor-Hauses. Der große Wandteppich, der von dem Bild gemacht wurde, ist ebenfalls neben einer Orgel ausgestellt, die Ensor als leidenschaftlicher Komponist selbst bespielte. Dass das seltsame Inventar des familiären Souvenirladens, in dem auch Karnevalkleidung verkauft wurde, den Maler nachhaltig beeinflusst hat, lässt sich in diesem Raum am besten studieren. So erinnert die skelettartige Figur, die noch heute am Tisch des blauen Salons in einem skurrilem Anzug sitzt, an das Bild „Skelett Chinoiserien betrachtend“, das sich heute in den Sammlungen des Wallraf-Richartz-Museums in Köln befindet.
Spaziergang mit Veränderung
Eine interaktive Auflistung seiner wichtigsten Werke informiert, eingebettet in die biographischen Stationen, über ihren Verbleib in der ganzen Welt. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und den städtischen Metamorphosen aus der Zeit des beginnenden Massentourismus sind viele Originalschauplätze nicht mehr zu besichtigen. Wer den per App nahegebrachten Ensor-Spaziergang absolviert, bekommt eine Ahnung davon, wie sich Ostende verändert hat und es immer noch tut. Ein imaginärer James Ensor erläutert die Orte persönlich. Für eine Gebühr von 5,49 Euro wird der Spaziergang freigeschaltet, umsonst gibt es ihn beim gleichzeitigen Besuch des Museums. Auch wenn der Umweg zu manch einem Hotspot, der mit Ensor keine Verbindung aufweist, mitunter die Geduld strapaziert, die Neugestaltung des Ensor-Hauses ist zumindest beeindruckend gelungen.