27.04.2015

Museum

Bekleiden, entkleiden

Foto: Reimer Verlag


„Buch-Gewänder“ von David Ganz
Buch-Gewänder von David Ganz

David Ganz hat eine überaus kenntnisreiche Geschichte mittelalterlicher Bucheinbände geschrieben. 

Ob das Buch als Objekt kunstvoller Gestaltung besteht oder in der Euphorie digitaler Vermarktungsideen untergeht – diese Frage kann David Ganz nicht beantworten. Dass es ganz wunderbare Bucheinbände gibt, daran gibt es hingegen keinen Zweifel. Schon gar nicht für David Ganz, Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters an der Universität Zürich und Autor des jetzt erschienenen Buches „Buch-Gewänder – Prachteinbände im Mittelalter“. Doch erscheine, so beklagt Ganz zu Beginn seiner reich bebilderten, tief ins mittelalterliche religiöse Denken einführenden, hoch komplexen und hochgradig spannenden Studie, dass das „Gewicht heiliger Bücher als ästhetisch gestalteter Sakramentalien in neueren Darstellungen dramatisch unterbelichtet“ ist. Gegen diesen Trend steht Ganz’ Buch, das wie jede gute Bildbeschreibung, nicht nur die Augen für Details öffnet, sondern ihren Gegenstand in ihre Zeit einordnet. Dass Details von Prachteinbänden der Evangelien und liturgischen Texte ein großes Basiswissen voraussetzen, ist klar, für den Autoren aber keine Voraussetzung. Und das ist sehr gut, denn es gibt viel zu erklären über das mittelalterliche Denken.

Diese Erklärungen sind oft hoch theoretisch, aber extrem spannend. Etwa wenn Ganz die Darstellungen des Genoels-Elderen Bucheinbandes aus dem Musées Royaux d’Art et d’Histoire in Brüssel erklärt: Das Motiv der Maria mit Spindel und Rocken war in der spätantik-byzantinischen Bildkunst häufig zu finden, in der westlichen dagegen eher selten. In diesen Bildern geht es um die Erzählungen des apokryphen Protoevangeliums Jacobi, nach dem Maria im Moment der Verkündigung Purpur für den Tempelvorhang spann. Im Frühmittelalter tritt das Motiv der Handarbeit Mariens in Buchhüllen wieder auf, allerdings in einer wesentlich symbolischeren Form: „Die christliche Auslegung des Vorhangs, die Paulus im Hebräerbrief entwickelt, spricht vom Vorhang des Fleisches und meint damit den inkarnierten Christus selbst. Der jüdische Vorhang vor dem Allerheiligsten wird hier zum Gewand umgedeutet, in das Christus bei der Fleischwerdung schlüpft. Die Rolle Mariens als Gottesmutter, so ist es in der Kirchenväterliteratur häufiger zu lesen, war die einer Gewandspenderin.“ Diese Darstellung dient wiederum einem Gewand als Schmuck  – dem Buch-Gewand, das aus Elfenbein besteht. Das kostbare, weiße Elfenbein galt als Symbol für die Jungfräulichkeit Mariens, aus deren Fleisch Christus geboren wurde. Die kunstvoll durchbrochene Oberfläche des Bildes „prägt dem fleischaffinen Material eine eigene Hüllenqualität ein“, schreibt Ganz.


Elfenbeintafeln
Elfenbeintafeln, Foto: Reimer Verlag

 


Elfenbeintafeln
Elfenbeintafeln, Foto: Reimer Verlag

Das Bedeutungsgewebe, das hier freigelegt wird, korrespondiert mit der kunstvollen Gestaltung der Buchhüllen, die oft Kästen waren, die die Evangelien beherbergten. Deshalb spricht Ganz am Beispiel des wunderbaren Uta-Kodex von 1020/30 aus einer Regensburger Goldschmiedewerkstatt von Gewändern auf zwei Ebenen „Auf der ersten Ebene ist der Einband schmückender, aus kostbaren Materialien gefertigter Ornat des Evangelienbuches. Das ist die für unsere Gattung konstitutive Außen-Innen-Relation. Auf einer zweiten Ebene ist der Einband Träger für ein Bild, das den Körper Christi repräsentiert. In diesem Bild ist Christus selbst schon in ein Kleid gehüllt. Der Träger des Gewands, der in so vollen Formen auf einem Thron Platz genommen hat, ist ein figürlicher Bildkörper, den erst die Buchhülle selbst zur Verfügung stellt.“Doch damit nicht genug: Indem ein Buch dem Buchkasten zur Lesung entnommen wird, wird es entkleidet und durch die Vorlesung zum klingen gebracht. Wurde das Buch nach der Lesung wieder in den Kasten gelegt, „verband sich der mit Schriftzeichen gefüllte Kodex wieder mit seiner Bildhülle, die für den gesamten restlichen Teil der Messe die Präsenz Christi im Evangelienbuch anzeigte.“


Buchkasten
Uta-Kodex von 1020/30, Buchkasten, Foto: Reimer Verlag

Eine solche Erklärung ist geradezu atemberaubend. Noch tiefer in mittelalterliches Denken führen Erläuterungen zum Buch, das ein auf einem Buchkasten dargestellter Christus in der Hand hält: „Die Figur des Himmelsherrschers repräsentiert eine durch das Buch, in diesem Buch sich konstituierende Person.“


Buchkasten
Uta-Kodex von 1020/30, Buchkasten, Foto: Reimer Verlag

Diese hier nur ausschnitthaft wiedergegebenen Beispiele, zeigen bereits den riesigen Wissensschatz, den David Ganz ausbreitet. Und der nicht nur religionsgeschichtlich, historisch und kunsthistorisch von einem immensen Erkenntniswert ist, sondern Grundlage jeder Beschäftigung mit mittelalterlichen Bucheinbänden sein muss.

David Ganz „Buch-Gewänder -Prachteinbände im Mittelalter“, Reimer Verlag, 368 S., 79 Euro

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